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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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eine Sekunde lang vor sich hingestarrt. Ein bodenloser Blick. Dann zog sie ihre zerrissene Unterhose an und klemmte sie unter den Bund ihres Rocks, damit sie nicht herunterrutschte. Sie sprachen kein Wort, und sie ging. Er schnitt sich mit seinem Taschenmesser in den Handrücken. Falls sein Vater wegen des Bluts gefragt hätte, wäre das eine plausible Erklärung gewesen. »Siehst du«, hätte er sagen und auf die Stelle an seiner Hand zeigen können, »es war ein Unfall.«
    Doch sein Vater fragte nicht, und es kam keiner, der etwas von ihm wollte. Kein Vater oder Bruder oder Polizist.
    Dann sah ich, was Mr. Harvey neben sich spürte. Dieses Mädchen, das nur wenige Jahre später gestorben war, als ihr Bruder beim Rauchen einer Zigarette einschlief. Sie saß auf dem Beifahrersitz. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis er sich an mich erinnerte.
    Die einzigen Zeichen von Veränderung seit dem Tag, an dem Mr. Harvey mich bei den Flanagans abgeliefert hatte, waren die orangefarbigen, um das Grundstück herum aufgestellten Leitkegel. Das und der Hinweis darauf, dass das Schlundloch sich vergrößert hatte. Die Südostecke des Hauses neigte sich nach unten, und die vordere Veranda versank in aller Stille in der Erde.
    Als Vorsichtsmaßnahme parkte Ray auf der anderen Seite der Flat Road unter einem Abschnitt wuchernden Strauchwerks. Trotzdem streifte die Beifahrerseite den Rand des Pflasters. »Was ist aus den Flanagans geworden?«, fragte Ray, während sie aus seinem Auto stiegen.
    »Mein Vater meint, die Firma, die das Gelände gekauft hat, hat ihnen eine Abfindung gezahlt, und sie sind weggezogen.«
    »Es ist unheimlich hier, Ruth«, sagte Ray.
    Sie überquerten die unbefahrene Straße. Der Himmel über ihnen war hellblau, und ein paar rauchige Wolken tüpfelten die Luft. Von ihrem Standpunkt aus konnten sie die Rückseite von Hals Motorradwerkstatt jenseits der Eisenbahngleise erkennen.
    »Ob die wohl immer noch Hal Heckler gehört?«, sagte Ruth. »Als Teenager war ich verknallt in ihn.«
    Dann wandte sie sich dem Grundstück zu. Sie waren still. Ruth bewegte sich in stetig kleiner werdenden Kreisen auf das Loch und seinen undefinierbaren Rand zu. Ray ging hinter Ruth her, die die Führung übernommen hatte. Wenn man das Schlundloch aus der Ferne sah, wirkte es harmlos - wie eine übergroße Schlammpfütze, die eben anfing auszutrocknen. Es war von Gras- und Unkrautflecken umgeben, und dann, wenn man genau hinsah, war es, als ob die Erde zu Ende wäre und ein hell kakaobraunes Fleisch begänne. Es war weich und konvex und sog Gegenstände auf seiner Oberfläche in sich auf.
    »Woher weißt du, dass es uns nicht verschluckt?«, fragte Ray.
    »Wir sind nicht schwer genug«, sagte Ruth.
    »Bleib stehen, wenn du das Gefühl hast, einzusinken.«
    Als ich ihnen zuschaute, fiel mir ein, wie ich Buckleys Hand gehalten hatte an dem Tag, als wir den Kühlschrank versenkten. Während mein Vater mit Mr. Flanagan redete, gingen Buckley und ich bis zu der Stelle, wo die Erde sich neigte und nachgiebiger wurde, und ich hätte schwören können, dass ich spürte, wie sie unter meinen Füßen ganz leicht nachgab. Es war dasselbe Gefühl gewesen wie bei einem Spaziergang über den Friedhof unserer Kirche, bei dem ich plötzlich in die Tunnel eingebrochen war, die die Maulwürfe zwischen den Grabsteinen gegraben hatten.
    Im Grunde war es die Erinnerung an eben diese Maulwürfe - und die Abbildungen von ihnen, blind, schnüffelnd, gierig, die ich aus Büchern kannte -, die mich bereitwilliger hatte akzeptieren lassen, dass ich in einem schweren Metallsafe in die Erde versenkt wurde. Jedenfalls war ich vor Maulwürfen sicher.
    Ruth trippelte auf Zehenspitzen auf das zu, was sie für den Rand des Lochs hielt, während ich an das Lachen meines Vaters an jenem längst vergangenen Tag dachte. Auf dem Heimweg hatte ich nämlich eine Geschichte für meinen Bruder erfunden. Dass es unter dem Schlundloch ein ganzes Dorf in der Erde gäbe, von dem niemand wusste, und die Menschen, die dort lebten, diese Haushaltsgeräte wie Geschenke aus einem irdischen Himmel begrüßten. »Wenn unser Kühlschrank bei ihnen ankommt«, sagte ich, »werden sie uns preisen, denn sie sind ein Volk von winzigen Mechanikern, die gern Sachen reparieren.« Das Gelächter meines Vaters erfüllte das Auto.
    »Ruthie«, sagte Ray, »das ist nahe genug.«
    Ruths Zehen befanden sich auf dem weichen Teil des Erdbodens, ihre Fersen auf dem harten, und als ich

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