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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Namen Sophie? Er wusste genau, dass er ihn ebenfalls gehört hatte, doch das war Jahre her, bei einem Straßenfest, wo in den Geschichten, die die Leute erzählten, um gute Nachbarn zu sein, die Namen von Kindern und Ehefrauen umherschwirrten wie Konfetti und das Bekanntmachen mit Säuglingen und Fremden zu vage gewesen war, um sich am nächsten Tag noch daran zu erinnern.
    Allerdings erinnerte er sich, dass Mr. Harvey nicht auf das Straßenfest gekommen war. Er war noch nie auf einem gewesen. Das war nach den Maßstäben vieler im Viertel, nicht aber nach den Maßstäben meines Vaters, seiner Sonderlichkeit zuzuschreiben. Er hatte sich bei diesen gezwungenen Bemühungen um Geselligkeit selbst nie so ganz wohl gefühlt.
    Mein Vater schrieb »Leah?« in sein Heft. Dann schrieb er: »Sophie?« Ohne es zu wissen, hatte er mit einer Auflistung der Toten begonnen.
    Am Weihnachtstag wäre es für meine Familie im Himmel angenehmer gewesen. Weihnachten wurde in meinem Himmel weitgehend ignoriert. Manche Menschen kleideten sich ganz in Weiß und gaben vor, Schneeflocken zu sein, aber abgesehen davon - nichts.
    An diesem Weihnachtstag kam Samuel Heckler zu einem unerwarteten Besuch bei uns vorbei. Er war nicht gekleidet wie eine Schneeflocke. Er trug die Lederjacke seines älteren Bruders und ein Paar schlecht sitzende Armeehosen.
    Mein Bruder war mit seinen Spielsachen im Vorderzimmer. Meine Mutter war froh, dass sie die Geschenke für ihn schon früh eingekauft hatte. Lindsey bekam Handschuhe und kirschrotes Lipgloss. Mein Vater kriegte fünf weiße Taschentücher, die sie vor Monaten per Post bestellt hatte. Bis auf Buckley wünschte sich sowieso keiner etwas. An den Tagen vor Weihnachten wurde die Lichterkette am Baum nicht eingestöpselt. Nur die Kerze, die mein Vater im Fenster seines Arbeitszimmers stehen hatte, brannte. Er zündete sie nach Einbruch der Dunkelheit an, aber meine Mutter und meine Geschwister gingen nach vier Uhr nicht mehr aus dem Haus. Nur ich sah sie.
    »Draußen ist ein Mann!«, rief mein Bruder. Er hatte Wolkenkratzer gespielt, und der musste noch einstürzen. »Er hat einen Koffer.«
    Meine Mutter ließ ihren Eierflip in der Küche stehen und ging nach vorn. Lindsey ertrug, was alle Feiertage erforderten: ihre obligatorische Anwesenheit im Wohnzimmer. Sie und mein Vater spielten Monopoly, wobei sie, sich gegenseitig zum Gefallen, die brutaleren Felder ignorierten. Es gab keine Zusatzsteuer, und eine schlechte Ereignisfeldkarte wurde nicht anerkannt.
    Im Hausflur strich meine Mutter mit den Händen über ihren Rock. Sie stellte Buckley vor sich und legte ihm die Hände auf die Schultern.
    »Warte, bis der Mann anklopft«, sagte sie.
    »Vielleicht ist es Reverend Strick«, sagte mein Vater zu Lindsey und sammelte seine fünfzehn Dollar ein, die er als zweiten Preis in einem Schönheitswettbewerb gewonnen hatte.
    »Hoffentlich nicht, um Susies willen«, äußerte Lindsey.
    Mein Vater hielt sich daran fest, dass meine Schwester meinen Namen sagte. Sie würfelte zweimal und rückte auf die Badstraße vor.
    »Das sind vierundzwanzig Dollar«, sagte mein Vater, »aber gib mir zehn.«
    »Lindsey«, rief meine Mutter. »Besuch für dich.«
    Mein Vater schaute zu, wie meine Schwester aufstand und das Zimmer verließ. Wir schauten beide zu. Ich blieb bei meinem Vater sitzen. Ich war der Geist auf dem Spielbrett. Er starrte auf den kleinen Schuh, der in der Schachtel auf der Seite lag. Wenn ich ihn nur hätte aufheben und dazu bringen können, von der Schlossallee zur Seestraße zu hüpfen, wo meiner Meinung nach die besseren Menschen wohnten. »Das findest du doch nur, weil du ein Lila-Freak bist«, sagte Lindsey dazu. Und mein Vater meinte: »Ich bin stolz darauf, dass ich keinen Snob großgezogen habe.«
    »Bahnhöfe, Susie«, sagte er. »Du hast immer gern die Bahnhöfe gehabt.«
    Um seinen spitzen Haaransatz zu betonen und seinen Wirbel zu zähmen, bestand Samuel Heckler darauf, sich das Haar glatt nach hinten zu kämmen. Dadurch sah er, dreizehn und in schwarzes Leder gekleidet, aus wie ein halbwüchsiger Vampir.
    »Frohe Weihnachten, Lindsey«, sagte er zu meiner Schwester und streckte ihr ein kleines, in blaues Papier eingewickeltes Päckchen entgegen.
    Ich konnte sehen, wie es geschah: Lindseys Körper fing an, sich zu verknoten. Sie versuchte angestrengt, jeden auszuschließen, jeden, aber Samuel Heckler fand sie süß. Ihr Herz wurde zermahlen, wie die Zutat in einem Rezept, und unabhängig von

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