In meinem kleinen Land
augenblicklich wie Ulrich Matthes in einem Kriegsfilm. Man bekommt ganz hohle Wangen in dieser Zeitmaschine von einem Bahnhof. Sollten die auch nicht renovieren, die Gleishalle. Sie ist so schön verrostet, und das große Schild, das von der Decke hängt und auf dem «Wiesbaden» steht, sieht genauso aus wie in einer ungeheuer kostspieligen Bernd-Eichinger-Filmproduktion.
In Wiesbaden, das von manchen Einwohnern Fiesbaden genannt wird, gibt es natürlich eine Menge zu sehen. Eine riesige evangelische, im neugotischen Stil und komplett aus rötlichem Backstein erbaute Kirche, die zumindest von außen ziemlich was hermacht. Vor diesem kremlartig auffälligen und Marktkirche genannten Gotteshaus bauen sie den Weihnachtsmarkt auf. Bald ist es wieder so weit.
Ich werde einen Monat lang nur Crêpes mit Nutella und Bananenscheiben essen und mich fragen, wer eigentlich die Tonnen von müffelnden Bienenwachskerzen kauft!? Höchstwahrscheinlich Omis und Raucher von mit Honig parfümiertem Pfeifentabak, allesamt sogenannte Honigaficionados.
In Wiesbaden leben viele Beamte, denn in Wiesbaden gibt es viele Behörden und eine Landesregierung. Und eine Spielbank, wo die Beamten und die Politiker sowie die Winzer der Gegend ihr Taschengeld abliefern. Das haben vor ihnen auch schon Richard Wagner und Fjodor Dostojewski getan. Die Spielbank ist recht opulent, wie überhaupt die Stadt Wiesbaden mit einigen Baudenkmälern und einer malerischen Lage auftrumpft.
Ich steige die Treppe zu meinem Hotelzimmer hoch und betrachte die schönen Druckgraphiken, die da hängen. Es sind darauf im Stil der fünfziger Jahre gezeichnete Menschen in Abendgarderobe zu sehen, die sich Henkell Trocken einschenken. Warum Henkell Trocken? Die Firma residiert in der Stadt. Unter den eleganten Sekttrinkern steht der Satz: «Mit Henkell Trocken legen Sie Ehre ein.»
Nach einem Nickerchen – heißt heute übrigens in Männerzeitschriften immer Power-Napping – von ungefähr dreißig Minuten treibt mich der Hunger in die Fußgängerzone. Ich lande in einer in den siebziger Jahren erbauten Einkaufsmall von zweifelhaftem Charme. Dort gibt es ein chinesisches Restaurant. Manchmal ist mir danach. Ich liebe diese verschmodderten China-Lokale. Großartiges Dekor! Speisekarte mit dreihundert durchnummerierten Gerichten, von denen sich zweihundertachtzig eigentlich gar nicht unterscheiden. Menüs für fünf Euro! Und dann die Musik, herrlich. Heute wird «Rivers of Babylon» von Boney M. gegeben, natürlich in einer instrumentalen Version des Pekinger Poporchesters: «Pingpingpingpingping ping pingpink.» Das klingt ja für unser europäisches Ohr stets etwas verstimmt, dieses chinesische Folkloregereibe. Aber in diesem Ambiente stört es nicht, im Gegenteil, da will ich das unbedingt.
Das Restaurant verfügt auch über eine leistungsstarke Klimaanlage, die nicht nur vernehmbar rauscht, sondern auch die ganze abgehängte Decke mitsamt dem daran befestigten chinesischen Beleuchtungsklimbim vibrieren lässt. Es rauscht und brummt und klirrt die ganze Zeit. Ich schließe die Augen und fühle mich sofort in ein Flugzeug versetzt. Das Flugzeug fliegt von Schanghai nach Wiesbaden, und nun bringt die freundliche Stewardess das Bordmenü. Essensmusik: «Girls, girls, girls» von Sailor in der Interpretation der kantonesischen Volksmusikanten.
Großes Publikum. Die ganz hinten sitzen, sehen aber nichts, also mache ich meine Lesung heute im Stehen. Das ist für die Leute auch netter, als wenn da einer sitzt und über seinem Manuskript hängt wie ein betrunkener Sachbearbeiter.
Am nächsten Morgen Abreise nach Hause. Man schleppt, schleppt, schleppt. Der Schaffner des ICE hat die Stimme von Michel Friedman: «Wählen Sie aus unserem Angebot, zum Beispiel einen Kaffee und ein Croissant. Wir wünschen Ihnen eine entspannte Reise.» Vielleicht IST das ja Michel Friedman. Natürlich! Er übt Sozialkompetenz im Umgang mit seinen Mitmenschen und hat daher bei der Bahn angeheuert. Gute Idee. Das klappt auch schon ganz prima. Nur, wenn Fahrgäste ihm richtig auf den Keks gehen, flippt er aus:
Friedman: «Ihren Fahrschein. Ich habe gesagt Fahrschein!»
Hertha Däubler-Gmelin auf dem Weg in den Wahlkreis: «Moment, ich suche noch. Außerdem müssen Sie mich nicht so anherrschen.»
Friedman (lauter): «Darf ich Ihren Fahrschein sehen? Ich habe immer noch das Recht, Ihren Fahrschein zu sehen!»
Däubler-Gmelin: «Ja, sicher, das will Ihnen doch auch niemand
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