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In meinem kleinen Land

In meinem kleinen Land

Titel: In meinem kleinen Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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Ich wette, es war so: Der kleine Leon wollte unbedingt mit Laterne zum Einkaufen, und nach hundertzwanzig Metern wurde sie ihm zu lästig, und nun trägt seine Mama die Laterne und die Einkäufe, während Leon jammert, weil er Pommes essen will. Vor meinem Hotelfenster liegt der Marktplatz. Wahrscheinlich findet hier ein- bis zweimal die Woche der Markt statt. Dann ist ein bisschen mehr los als jetzt. Am Rande des Platzes lungern ein paar Jugendliche im Nieselregen herum. Nachmittägliche Langeweile. Die Innenstadt von Dieburg ist nicht gerade das, was man einen Publikumsmagneten nennt. Auch hier haben sich im Umfeld des Ortes irgendwelche Einkaufszentren breitgemacht, die die Käufer aus dem Stadtkern heraussaugen.

    Auf der Bühne der Ludwigshall liegen allerhand aufgeblasene Krokodile von verschiedener Größe herum. Wer ein Krokodil mitgebracht hat, bekommt freien Eintritt. Ich warte hinter dem Vorhang. Offenbar fand in der Ludwigshall erst vor kurzem ein Rockkonzert mit einer Cover-Band statt. Die Setlist der Mucker liegt noch herum. Es hängt schwarzes Gaffertape daran. Wahrscheinlich hat die Liste auf dem Bühnenboden geklebt, gleich neben dem Effektgerätebrett des Gitarristen. Die Liste umfasst sagenhafte 41 Titel, es war also offenbar ein ziemlich langer Gig. Musiker sagen Gig, nicht Auftritt.
    Zum sehr buntgemischten Programm gehören klassische Muckertitel wie «Start me up», was ich nicht einmal mehr von den Rolling Stones hören möchte, und «Behind blue Eyes» von The Who. Man wagt sich auch an «Whole lotta love», «Hey Joe» und «Locomotive Breath», später folgen das steindumme «All Right now», «Smoke on the water», «I love Rock’n’Roll», «Born to be wild» und viele weitere gut abgehangene Rockschlager, die man nachts bei VOX auf sechs CDs für neunundneunzig Euro erwerben kann.
    Im Zugabeteil: «Hey, Hey, May, May!» Ich nehme mal an, damit ist Neil Youngs «Hey, Hey, My, My» gemeint.

    Jetzt wird es bald Winter. Er liegt schon in der Luft, kriecht in die Nase und in die Ohren. Die Zeit zwischen Sankt Martin und Nikolaus, in der man sich an die Dunkelheit gewöhnen muss, diesen Tunnel, der erst wieder im April aufhört. Es wurde heute schon früh düster.
    Gegen fünf betrat ich die Kirche im Ort, und in ihr war es stockfinster, nicht einmal Kerzen brannten. Der Küster hatte wohl vergessen, die Türe abzuschließen, oder man rechnete nicht mehr mit Besuch. Ich wollte schon wieder gehen, da hörte ich Musik. Jemand übte an der Orgel. Ich setzte mich still in die letzte Reihe und hörte zu. Außer mir und dem Organisten und dem Hausherrn war niemand da. Vielleicht war es der schönste Moment der bisherigen Reise. So schön. Hey, hey, my, my.

Bodenheim. Mit Ralf und Florian am Rhein entlang
    16. November 2005
    In dieser Ecke Deutschlands zu reisen ist sehr anstrengend, weil man immer die Richtung wechselt und niemals wirklich vorankommt. Ständig ist man in der Nähe vom Frankfurter Flughafen oder von Mainz. Nie ist gewiss, in welche Himmelsrichtung man gerade fährt.
    Aber die Unentschiedenheit der Rhein-Main-Pfalz-Gegend ist nicht der einzige Grund für meine ständige Unsicherheit. Denn nicht nur, dass man sich hier so verwirbelt fühlt, die Menschen sind überdies von einem schon unheimlichen Lokalpatriotismus beseelt. Da gibt es die Hessen, ein paar Meter weiter die Pfälzer, wobei es einen gewaltigen Unterschied zu machen scheint, ob sie aus der Rheinpfalz sind oder von der Mosel, wo es ja in die Eifel geht, die von Mainzern für verspottenswert gehalten wird, ebenso wie das benachbarte Wiesbaden. Bodenheim liegt ebenfalls bei Mainz, ist aber bereits in Wiesbaden niemandem ein Begriff, was man nach einem Besuch in Bodenheim verstehen kann, denn Bodenheim ist selbst den Bodenheimern unbekannt.
    Der Ort wirkt nahezu ausgestorben. Es fehlen eigentlich nur Tumbleweeds. Tumbleweeds sind diese dürren runden Sträucher, die in Westernfilmen immer durch die Kulisse von verlassenen Städten kullern. Die Altstadt von Bodenheim ist etwa so belebt wie die Kulissen der Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg im Januar. Ich zähle zwei Bäcker und zwei Metzger und ungefähr sechzehntausend Weinhändler, die aber an diesem trüben Novembertag weder Kunden noch Personal noch Wein zu haben scheinen.
    Vielleicht ist das ja gar nicht Bodenheim, sondern das ausschließlich von Bäckern und Metzgern überlebte Ergebnis eines Neutronenbombenversuchs der rheinland-pfälzischen Landesregierung. Habe

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