In meinem kleinen Land
ich da vielleicht was verpasst?
Ich lerne dann, dass Bodenheim ein typisches Straßendorf sei und dass sich das Leben in den Straußenwirtschaften und hinter den heute geschlossenen Toreinfahrten der Häuser abspiele, wo aus lauter Langeweile Weinköniginnen gezeugt werden. In Wirklichkeit sei der Ort durchaus belebt, besonders im neueren Teil, wo es auch Geschäfte gebe und florierende IT-Unternehmen. Das muss irgendwo hinter den Bahngleisen sein, aber es sieht von fern so hässlich aus, dass ich lieber ins Hotel gehe und ein Nickerchen mache.
Abends bei der Lesung sind dann überraschenderweise sehr viele Leute. Wo die wohl alle herkommen? Anschließend gehe ich noch etwas Käse essen, in ein Weinlokal mit vielen Gästen. Komische Gegend, die Leute hier scheinen mir eher nachtaktiv zu sein.
Am nächsten Morgen Weiterfahrt nach Bad Kreuznach. Natürlich über Mainz. Man fährt hier überhaupt immer über Mainz. Ich bin in dieser Woche dreimal in Mainz, um auf dem Bahnhof umzusteigen. Vorher geht es am Rhein entlang, dem deutschen Strom. Eine romantische Gegend ist das, womöglich eine der drei typischen deutschen Landschaften. Die anderen heißen für mich Friesland und Oberbayern.
Hier bei Mainz wirkt der Rhein noch beruhigend träge, weiter flussaufwärts, wo er breiter wird und die Orte noch näher an ihn heranrücken, wo die Weinberge und Felsen beinahe in den Strom rutschen, wo Burgen auf Bergen in der Sonne funkeln, da verändert sich auch der Fluss, verwandelt sich in eine Märchenlandschaft. Womöglich liegen Schätze im modernden Grund. Aber so weit fahre ich nicht, denn ich muss bloß nach Bad Kreuznach. Dennoch überwältigt mich eine romantische Stimmung, und dafür benötige ich nun einen geeigneten Soundtrack. Ich will unbedingt Kraftwerk hören. Das ist die beste Musik für Fahrten durch deutsche Landschaften. Warum? Dazu ein kleiner Exkurs.
Kraftwerk stehen in jeder Hinsicht in einer romantischen Tradition, es führt eine Nabelschnur von dort in ihre Rechner.
Die Modernität von Kraftwerk ist keineswegs technokratisches Programm, sondern basiert auf einer künstlerischen und nicht formalen Idee. Kraftwerk ist darin die konsequenteste Band der Welt. Spätestens bei «Trans Europa Express» hat sie 1977 ihren Stil gefunden und ihn nie wieder ernsthaft in Frage gestellt, höchstens moderat entwickelt. Das wird nicht nur in der Musik, sondern besonders im Design der Band deutlich.
Wer auf ihre Konzerte geht, wird mit Schwarzweißfilmen aus den fünfziger und sechziger Jahren unterhalten. Es sind alte Fernzüge – übrigens auf der Rheinschiene – und Autobahnen zu sehen, vierzig Jahre alte Neonreklamen sowie Architektur und Mode der fünfziger und sechziger Jahre. Das sieht alles sehr nach früher Bonner Republik aus, nach Adenauer und schweren schwarzen Mercedes-Limousinen. Einen solchen Mercedes 600 fuhr das Bandmitglied Ralf Hütter 1975, das Auto ist auf dem Cover der LP «Autobahn» abgebildet.
Die Kraftwerk-Musiker Hütter und Florian Schneider kamen in den vierziger Jahren zur Welt und erlebten als Kinder Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Schneiders Vater war der Architekt Paul Schneider-Esleben, der nach dem Krieg wegweisende Bürogebäude baute sowie unter anderem den brutalistischen Kölner Flughafen. Sein Sohn Florian arbeitete vergleichbar radikal in der Umsetzung seiner musikalischen Ideen, blieb jedoch im Kern wie sein Mitstreiter Hütter kompositorisch stets ein Traditionalist. Kraftwerk haben immer ihre deutschen Wurzeln thematisiert, zum Beispiel in Songtiteln wie «Franz Schubert» oder «Morgenspaziergang». Ihre Melodien klingen bisweilen wie romantische Kinder- oder Wanderlieder. Man höre dazu «Europa Endlos» oder «Autobahn».
Hinzu kommt die Optik der Gruppe, der seit dreißig Jahren eine beinahe gleichwertige Rolle zukommt. «Trans Europa Express» zeigt hierfür das gelungenste Beispiel. Als dieses bis heute beste und modernste Album der Band erschien, war Punk samt seiner Mode angesagt, die Zeit des Glamrock ging gerade zu Ende, und Disco war auf dem Sprung. Doch die vier Rheinländer posierten mitten in dieser Periode des hysteric glamour auf dem der Platte beigelegten Poster in wunderbaren Maßanzügen an einem Tischlein mit gemustertem Decklein vor einer Fotowand, die eine deutsche Fluss- und Berglandschaft zeigt. Das handkolorierte Bild sieht wirklich aus, als käme gleich die Kellnerin und brächte vier Schoppen Moselwein, und es wirkt wie ein Faustschlag
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