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In meinem kleinen Land

In meinem kleinen Land

Titel: In meinem kleinen Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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mich aus lauter Furcht vor dieser Stadt für das neue Berlin und wohne in einem Hotel bei den Hackeschen Höfen, in dem außer mir ausschließlich männliche Models aus Lateinamerika abgestiegen sind. Morgen fängt (im neuen Berlin) die Modemesse «Bread & Butter» an, und deshalb ist auf den Hotelfluren ein fröhliches und ungeheuer schwules Gerenne in Unterhosen zu verzeichnen.

    Das alte Berlin kenne ich ganz gut. Als Kind war ich oft hier, denn meine Großeltern, richtige Berliner, lebten in Wilmersdorf, Nassauische Straße. Ich durfte im Omnibus oben ganz vorne sitzen und spielte Busfahrer. Wir fuhren in den Grunewald oder in den Zoo. Oder sogar ins Kino! Abends bekam ich Toasthäppchen und Fanta aus einem winzigen, mit einer Städteansicht von Berlin bedruckten Glas. Berlin roch ganz anders als Düsseldorf. Später habe ich begriffen, dass das an den in den siebziger Jahren auch in Westberlin noch verbreiteten Kohleheizungen lag.
    Dass da eine Mauer rund um Berlin war, haben sie mir nicht erzählt. Warum auch? Jedenfalls befand man sich im Ku’ damm-Berlin. Im Gedächtniskirchen-Berlin. Im Kaufhaus-des-Westens-Berlin. Im Toasthäppchen-und-Fanta-Berlin. Dieses Berlin war geschunden, unübersichtlich, staubig und vor allem geheimnisvoll. Damals flog noch die Pan Am. Nach Tempelhof. Und ich bekam von der Stewardess Schiebepuzzles geschenkt.
    Ich fürchtete mich vor dem Treppenhaus in der Nassauischen Straße. Es war so furchtbar dunkel und groß, und man bekam die schwere Haustür nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte auf. Um ins Haus zu gelangen, musste ich die Brötchentüte erst abstellen, dann die Schulter gegen die Tür stemmen und, wenn ich sie weit geöffnet hatte, wie der Blitz die Brötchentüte greifen und mit ihr in den Eingang zischen, bevor die Tür wieder krachend ins Schloss fiel. Meine Oma sagte nicht Brötchen, sondern Schrippen.
    Es gab weitere Großmütter dort, die in düsteren Altbauwohnungen mit schweren Vorhängen, Möbeln und Teppichen darauf warteten, dass ich zu ihnen kam, um guten Tag zu sagen. Es roch immer ein wenig nach Gas, und ich hatte Angst, dass das ganze Haus in die Luft flog, wenn meine oder irgendeine andere Oma ein Streichholz an den Gasherd hielt, um mir Milch für den Kakao warm zu machen. Also lehnte ich das Angebot warmen Kakaos lieber ab.

    Natürlich: Es ist wahnsinnig aufregend im neuen Berlin. Das Regierungsviertel! Ohh! Die Friedrichstraße! Ahh! Der Ampelmännchen-Osten. Hihi. Der Reichstag. Huch! Alles ist um so vieles bedeutender als der Grunewald und der Zoo und der Kurfürstendamm. Das ist es vielleicht, was mich am neuen Berlin immer so fertigmacht: Diese Stadt klopft ständig ihren Mantel der Geschichte aus. Es staubt gewaltig, und die Rockschöße des Mantels schlagen einem ins Gesicht. Es ist schon geradezu ein Peitscheknallen mit Geschichte – und mit der Gegenwart. Dauernd geben die Taxifahrer mit den Großbaustellen an. Ständig werden in Berlin neue Halogenstrahler in abgehängte Rigips-Decken gefummelt. Es ist das Berlin des Trockenbaus, der Filialkultur, der aufgeschäumten Milch. Überall wird ununterbrochen renoviert. Das kann und wird noch hundert Jahre so weitergehen, bis es überall beschissenes Essen und Radeberger Pils und unangenehme indirekte Beleuchtung gibt. Berlin ist kein Ort des Aufbruchs, sondern einer des Abbruchs. Demnächst ist der Palast der Republik dran. Erichs Lampenladen. Ich habe aber Zweifel, dass es anschließend dort entschieden schöner sein wird als jetzt.
    Mitten auf einer der Mondoberfläche nicht unähnlichen Brache inmitten der Mitte Berlins, die von Berlinern euphemistisch Spreebogen genannt wird, entsteht aus dem Lehrter Bahnhof der neue Hauptbahnhof. Bald werden hier ICEs aus Hamburg ankommen. Die werden nur ungefähr 10,5 Minuten vom Dammtorbahnhof bis hierher brauchen, und stündlich steigen wichtige Menschen aus: Sabine Christiansen (altes Berlin), Anne Will (neues Berlin).
    Riesig wird der Bahnhof, das sieht man schon. Alles aus Glas. Tausende Menschen sollen hier nicht nur reisen, sondern auch fressen und kaufen. Die Stadt drum herum muss allerdings erst noch gebaut werden. Wahrscheinlich wird sie genauso aussehen wie der Bahnhof. Die Berliner werden es lieben.
    Der alte große Bahnhof im Westen, im alten Berlin, der Bahnhof Zoo, wird dann nur noch Regionalbahnhof sein. Fernzüge halten dort nicht mehr, kein weit Reisender steigt mehr aus, bloß Pendler. Zweihundert Meter weiter, in der Kantstraße, hat

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