In meinem kleinen Land
am zwanzigsten Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.
Bremen. Dieser Text ist radioaktiv restverseucht
26. April 2006
Als vor zwanzig Jahren in Tschernobyl die Löcher aus dem Käse flogen, war ich achtzehn Jahre alt. Ich kann mich noch erinnern, wie wir bibbernd in der Schule saßen und uns schworen, nie wieder Pilze zu essen. Physiklehrer knatterten mit Messgeräten herum, in den Nachrichten wurde gezeigt, wie Arbeiter in Schutzanzügen den Spielsand auf Kinderspielplätzen auswechselten. Ich sitze im Zug zwischen Oldenburg und Bremen und denke über früher nach.
Delmenhorst fährt vorbei.
Der Norddeutsche hat eine gewisse Neigung zum Versiegeln. Gerne verklinkert er sein Heim und alle Flächen rundherum. Unglaublich. Alles verklinkert, ganze Dörfer bestehen hier im Norden aus Asphalt, Gehwegplatten, Garagenauffahrten, Gartenbepflasterung und Fassadenklinker. Da kommt man schlecht druff.
Dann bessert sich meine Laune doch noch. Ich habe mich dafür bei vier Frauen zu bedanken, die auf der anderen Seite des schmalen Ganges in der Regionalbahn sitzen und offenbar eine Damentour antreten. Sie führen reichlich Gepäck mit und vor allem eine kaum noch zu steigernde Laune. Vielleicht Kegelschwestern.
Alle tragen asymmetrische Frisuren, ein bisschen durchgestuft, mit kleinen Effekten. Pfiffige Brillen. Und seltsam unmodisch modische Mode. Und sie haben Bock, mal was ohne ihre langweiligen Männer zu unternehmen. Daher wird nun als Allererstes eine Pulle Prosecco geöffnet. Plopp. Der Prosecco wurde zu Hause in Alufolie eingewickelt, damit er schön kühl bleibt. Die Alufolie kann man hinterher wegschmeißen, dann bleibt kein Ballast zurück. Man stößt mit Plastikbechern an, die eine der Damen aus der urologischen Praxis mitgebracht hat, in der sie arbeitet. Hihihi. Und noch mehr Alufolie, Berge von Alufolie, Alufoliengebirge. Da sind Butterbrote drin. Katenbrot mit Bierschinken. Muss man Lust drauf haben. Die Damen haben große Lust. Und kichern albern. Ich mag die aber.
Kurz vor Bremen ruckelt der Zug, und die Flasche mit dem Schaumwein fällt um. Sofort verwandeln sich die giggelnden Frauen in sorgende Mütter und erfahrene Hausfrauen und fuchteln eifrig mit Servietten und Tempo-Taschentüchern auf Hosen, Polstern, Jacken und Boden herum. Für eine Minute verstummt das Gekicher, und man hört nur geschäftiges Murmeln. Dann ist das Malheur behoben, die Erste kichert wieder, dann die anderen, und es ist, als sei nichts passiert. Ist ja auch nichts passiert.
In Bremen ebenfalls sehr schönes Wetter. Ich habe das so gebraucht. Diese Kälte der letzten Monate hat mich fast um den Verstand gebracht. Nun aber: glitzernde Weser, aufbrechende Bäume. Die Beck’s-Brauerei. Wunderbar.
Was an Beck’s nervt, ist, dass es inzwischen nur noch als Flasche gereicht wird und man jedes Mal nach einem Glas fragen muss. Beck’s wird immer aus der Flasche getrunken. Sogar in der Kinowerbung machen diese urbanen Neo-Spießer das immer. Dabei darf dies getrost als Unsitte getadelt werden, denn Bier schmeckt nicht aus der Flasche. Das liegt erstens daran, dass das Bier beim In-den-Mund-Schütten natürlich schäumt und die Kohlensäureblasen dann verstärkt auf der Zunge perlen, was dem Genuss abträglich ist. Und zweitens landet das Bier zu weit vorne auf der Zunge, wo es eigentlich nicht hingehört. Wenn man Bier aus einem Glas trinkt, kommt es weiter hinten an. Das ist besser, hat mich einmal ein Kenner belehrt, und ich bin sicher, dass das stimmt. Und drittens wird das Bier durch die ständige Schüttelei schneller schal. Aber wenn man irgendwo nach einem Glas zu seinem Beck’s fragt, hat man sofort keine Freunde mehr. Alle stehen immer mit ihrer Flasche in der Hand da, bloß ich halte ein Glas und komme mir vor wie der Ortsvorsitzende einer beliebigen Volkspartei beim Dixieland-Frühschoppen.
Heute Lesung in der Fußgängerzone. Man geht am Rathaus vorbei, wo Werder wieder nicht die Meisterschaft feiern wird und auch nicht den Sieg in der Champions League. Eigentlich wäre der Platz dort wie geschaffen für Meisterfeiern. Vielleicht rufen die Bremer mal bei Uli Hoeneß an und fragen, ob er die Meisterfeier diesmal nicht in Bremen abhalten könnte. Der Hoeneß ist ein netter Mann, und vielleicht macht er es ja, weil der Autokorso von München nach Bremen natürlich sehr lange dauern würde, und darüber freuen sich die Sponsoren des FC Bayern.
In Bremen findet die Weltmeisterschaft statt. Die
Weitere Kostenlose Bücher