In meinem kleinen Land
Hamburger. Immerhin hatten sie hier stets was zu sagen. Viele Schiffsreedereien gab es hier früher und deshalb reiche Leute mit Einfluss. Und diese Orgel. Sie steht in Neuenfelde in Sankt Pankratius und wurde 1688 vom großen Orgelbauer Arp Schnitger gebaut. Doch auch sie wird kaum verhindern können, dass hier bald nur noch die Flugzeuge orgeln. Der Konflikt wird dadurch verschärft, dass Airbus Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen hat. Wer die gefährden will, muss nur den Weiterbau des Geländes verhindern. Behaupten die Politiker und die Airbus-Leute.
Auf Ole von Beust, den Hamburger Bürgermeister, sind sie hier auch aus anderen Gründen schlecht zu sprechen: Er will die Elbe ausbaggern lassen, dann gelangen noch größere Schiffe mit noch mehr Tiefgang in den Hafen. Gleichzeitig steigt auf diese Weise die Fließgeschwindigkeit der Elbe, und das gefällt den Menschen hier nicht. Sie sorgen sich um die Dämme, die das Wasser von ihren Bäumen abhalten.
Der Bus fährt und fährt und fährt an Airbus entlang und landet schließlich in Cranz, das aus wenigen Häusern und viel Rasen besteht. Leider ist hier die Welt zu Ende, jedenfalls was den öffentlichen Personennahverkehr angeht. Der Busfahrer schaltet den Motor ab und wickelt ein Butterbrot aus. Ich frage ihn nach der Telefonnummer einer Taxizentrale, und er sagt: «Sechsmal die Sechs.»
In der Taxizentrale reagiert man mit spröder Ablehnung auf mein Ansinnen, ein Taxi nach Cranz zu schicken. Da fahre man nicht hin, heißt es verächtlich. Wer denn dann hinfahre, frage ich, und die Dame gibt mir eine neue Nummer. Das sei in Harburg, und die würden alles machen in Harburg. Darüber kann die Frau in Harburg nur lachen. Da fahren sie nicht hin, sagt die Frau. Sie nennt mir die Nummer einer weiteren Taxizentrale, die zwar nicht weiß, wo Cranz liegt, aber die Taxizentrale in Harburg empfiehlt. Die Harburger, «ich weiß», sage ich erschöpft, «die fahren überallhin. Vielen Dank.» Während ich mit meinem Gepäck im Wind stehe, kommen mehrere Frauen in Gummistiefeln auf Fahrrädern vorbei. Ich rufe die Auskunft an und frage, ob es ein Taxi in Jork gebe. Hurra, es gibt eines, und eine knappe halbe Stunde später stehe ich in der Rezeption des Hotels «Altes Land» in Jork. Es ist ein gutes Landhotel, zwischen dem Schützenverein und der freiwilligen Feuerwehr gelegen.
Natürlich alles verklinkert hier, vieles jedoch sehr hübsch, das muss man sagen. Fachwerk-Gepränge, ein hölzerner Kirchturm, es riecht nach frischgemähtem Gras. Wirklich aufregend ist es nicht. Aber hier wohnt auch niemand der Aufregung wegen, sondern wegen des Klimas, der Ruhe, der Äpfel und der blühenden Bäume. Ein Anblick muss das sein. Leider ist es noch nicht so weit. Leiderleider. Weil der Winter so lang gedauert hat. Zuerst werden die Kirschen kommen, dann die Äpfel. In zwei Tagen geht es angeblich richtig los. Dann kracht es in den Zweigen, dass es nur so eine Pracht ist.
Ich kaufe eine Kugel Bananen-Eis und gehe zum Rathaus, wo dann gleich die Lesung stattfinden wird. Es ist ein sehr schönes Rathaus, frisch gestrichen. Demnächst kommt nämlich der Ole von Beust und spricht mit dem örtlichen CDU-Bürgermeister wegen dieser Elbetieferlegung. Und da hat man halt mal geweißelt. Heute wurde den halben Tag lang gelüftet, es riecht überhaupt nicht nach Farbe.
Morgens Frühstück inmitten von Blüten-Touristen. Das Haus ist voll von denen. Schweigsame Ehepaare, die sich im Restaurant des Hotels gegenübersitzen und in stiller Eintracht essen und schweigen. Die Leute am Nebentisch sehen sich nicht einmal an. Und doch wissen sie, dass der andere da ist. Der Mann kleckert mit seinem Frühstücksei, ein dicker gelber Tropfen plumpst wie Magma auf seinen Pullover. Da nimmt seine Frau, als hätte sie den Vorgang mit einem dritten Auge beobachtet, ihre Serviette zur Hand, leckt sie an und zwickt das Eigelb vom beigen Fell ihres Gatten. Dieser wehrt sich nicht dagegen, im Gegenteil: Er breitet seine Arme aus, damit sie besser an ihn herankommt. Möchte man sich solche Menschen beim Sex vorstellen?
«Schade, dass ich gar nichts von der Blüte gesehen habe», sage ich zum Taxifahrer, der mich nach Buxtehude zum Bahnhof bringt. «Ja, wirklich schade», antwortet er. Wir verlassen die Anbaugebiete des Alten Landes. Hinter uns macht es «knack», und plötzlich reißen die Knospen auf, und Trillionen kleiner Blütenblätter winken mir, als wollten sie «bye-bye» sagen.
Lüneburg.
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