In meinem kleinen Land
John-Boy, schmeiß den Fettrechner an!
28. April 2006
Es gibt viele neue Begriffe. Das hat natürlich mit dem Internet zu tun und mit der mobilen Kommunikation. Wer hätte schon vor fünfzehn Jahren etwas mit «Dotcom» oder «IP» oder «Ringtonecharts» anfangen können. Okay. Ebenfalls neu ist das Wort «Anruferkennung». Und dieses Wort macht mich irre, weil ich nicht kapiere, ob es sich aus den Substantiven «Anruf» und «Erkennung» zusammensetzt oder aus «Anrufer» und «Kennung». Das ist nämlich überhaupt nicht dasselbe.
Gestern fiel mir ein Flyer in die Hände, der mir für einen Augenblick den Atem raubte: «Marzipan World!» Dort kann man herrliche lebensgroße Figuren aus Marzipan bestaunen, die in Marzipankulissen stehen (ein Euro!) sowie «Guinnessrekorde aus köstlichem Marzipan». Wer sich außerdem noch die «Marzipan-Show» ansieht, erhält hinterher ein Marzipan-Abitur, «inkl. Anleitung, Marzipanmasse & Urkunde».
Das Museum ist übrigens in Lübeck, und wenn ich das nächste Mal dort bin, gehe ich hinein. Heute muss ich aber nach Lüneburg, und das hat eine Silbe mehr und 140 000 Einwohner weniger als Lübeck, nämlich so ungefähr 70 000.
Auf nach Lüneburg. Auch so ein städtisches Kleinod südlich von Hamburg. Man muss in Harburg umsteigen und fährt ein halbes Stündchen mit müden Pendlern, bis man in so etwas wie dem Rosenheim des Nordens aussteigt. Ein wunderbarer Ort aus Backstein und Holz und dem hellen Grün des Frühjahrs. Sehr zufrieden sieht das aus. Hier können einem rotwangige Bauern mit zerzausten Haaren begegnen, die mit den Händen in den Hosentaschen in Eisenwarenläden nach Angelhaken fragen. Eigentlich der perfekte Ort für die Waltons. Sollte man jemals eine deutsche Version der «Waltons» drehen wollen, muss diese Fassung in der Lüneburger Heide spielen.
Lüneburg ist nicht nur für seine pittoreske Innenstadt und das Salzmuseum berühmt, sondern auch für Lünebest, eine Joghurt-Marke, die man nicht überall bekommt, nicht einmal überall in Lüneburg. Der Fettrechner auf der Website «Fettrechner.de» ermittelt für den «Lünebecher Blutorange» pro hundert Gramm dreiundneunzig Kalorien. Marzipan hingegen hat pro hundert Gramm vierhundertdreiundfünfzig Kalorien. Man ist also, was regionale Süßigkeiten und deren Fettgehalt angeht, in Lüneburg geringfügig besser aufgehoben als in Lübeck. Ich mache mir darüber zurzeit wieder Gedanken, weil diese Lesereise nicht gut für die Figur ist. Schrecklich.
Die heutige Lesung verspricht ein jüngeres Publikum als gestern in Jork, denn ich lese auf dem Uni-Campus in einem Café mit dem Namen «Ventuno». Habe ich schon mal geschrieben, dass ich Studenten liebe? Ich liebe Studenten. Vielleicht, weil ich nie studiert habe. Ich mag es einfach, in ein Café zu kommen, in dem junge Frauen mit Schürzen um die Hüften die Theke abwischen und sagen, dass der Kaffee ganz fair gehandelt sei. Es läuft «Massive Attack», belegte Bagels kosten bloß einen Euro. Und natürlich gibt es Bionade, jenes köstliche Erfrischungsgetränk, das seit einiger Zeit die deutsche Gastronomie erobert und ohne chemische Zusatzstoffe von einer kleinen Brauerei in der Rhön hergestellt wird.
Trinke vier Flaschen Holunder-Bionade, von der ich aufstoßen muss wie ein belgischer Bierkutscher. Danach Fahrt ins Hamburger Hotel. Morgen fliege ich schon um sieben Uhr morgens nach Hause ins Wochenende. Ich muss also um 5.20 Uhr aufstehen.
«Gute Nacht, John-Boy.»
«Gute Nacht, Jim-Bob.»
Köln. Schicksalstag 1
2. Mai 2006
Kölle. Wunderschöner Sommertag. Tausend kölsche Jungs mit O-Beinen und Glitschhaaren gleiten durch die Fußgängerzone. Poldi-Land, Schweini-Land. Und immer mit einem lecker Mädsche im Arm. So lässt sich’s leben. Heute Abend kommt der HSV in die Stadt. Da geht es um alles. Sieg: Klassenerhalt. Niederlage: mal wieder Abstieg. Das kennen sie hier in Köln ganz gut.
Im Hotelcafé liegt eine Zeitung herum, der «Express». Darin steht eine Geschichte, die mich mitnimmt: Eine Journalistin, gerade mal knapp über dreißig, hat mit ihrem Freund ein Hotelzimmer gemietet, und die beiden haben sich darin umgebracht. Ein Zimmermädchen hat die beiden gefunden. Hand in Hand, angezogen, wie schlafend auf dem Bett. Beide hatten eine Infusion im Arm, professionell gelegt. Der Freund war Arzt. Abends hatten sie sich noch etwas zu essen ins Zimmer bestellt, dazu Wein getrunken. Dann hat er sich und ihr eine Nadel in den
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