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In Sachen Kain und Abel. Neue Satiren.

In Sachen Kain und Abel. Neue Satiren.

Titel: In Sachen Kain und Abel. Neue Satiren. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ephraim Kishon
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dorthin gekommen ist, ahne ich nicht. Ich habe das letzte Mal im Alter von sieben Jahren Klavier gespielt.
    »Wollen Sie damit sagen«, unterbricht mich an dieser Stelle der unfreundliche Leser, »daß Ihre Brille mit Ihnen Verstecken spielt?«
    Ja. Genau das will ich sagen. Meine Brille führt ein eigenes Leben, sogar ein sehr munteres und vergnügtes. Kaum lege ich sie für einen Augenblick beiseite, entfernt sie sich auf Zehenspitzen und geht verloren. Sie weiß, daß mich das ärgert. Deshalb tut sie's ja. Wenn ich sie dann irgendwo finde, wo sie nicht hingehört, zum Beispiel in der Vorhangschnalle am Fensterbrett oder im Kühlschrank unter den Steaks, grinst sie mich an und macht keinen Hehl aus ihrer Schadenfreude. Einmal habe ich sie sogar tief innen in unserem Fernsehapparat entdeckt, wo sie die Drähte durcheinanderbrachte. Und während der letzten Hitzewelle fand sie ihren Weg bis aufs Dach hinauf. Sie kann fliegen.

    Manchmal nehme ich sie in Präventivhaft. Bevor ich schlafen gehe, sperre ich sie zwischen dem Bleistifthalter und dem Familienfoto auf meinem Schreibtisch ein und memoriere noch im Bett:
    »Zwischen den Bleistiften und der Familie, zwischen den Bleistiften und...«
    Am Morgen führt mich mein erster Weg zum Schreibtisch. Bleistifte und Familie sind da, die Brille nicht. Ein paar Stunden später setze ich mich ans Steuer meines Wagens, um in die Stadt zu fahren - und höre aus dem Fond ein leises Hallo. Es ist meine Brille.
    Manchmal verschwindet sie für Tage, und ich reiße vergebens die Tapeten von der Wand. Die einzig erfolgreiche Gegenwehr besteht darin, sofort eine neue Brille zu bestellen. In der Regel taucht dann die alte fünf Minuten vor dem Anruf des Optikers auf, der mir mitteilt, daß die neue abholbereit ist. Sie wird in die Reserve versetzt, als diejenige, mit der man die andere sucht. Das funktioniert so lange, bis eine von beiden spurlos verschwindet. Beide zugleich gibt es immer nur für ganz kurze Zeit. Sie hassen einander.
    Die beste Ehefrau von allen behauptet, daß die Misere nicht an den Brillengläsern liegt, sondern an mir, weil ich so zerstreut bin. Sie hat keine Ahnung von Brillenpsychologie. Also muß ich den Kampf allein ausfechten.
    Eines Tages kam mir der geniale Einfall, unsere gemischte Rassehündin Franzi als Brillenjagdhund abzurichten. Ich ließ sie Witterung nehmen, indem ich die Gläser ausführlich an ihrer Nase rieb, dann versteckte ich die Brille im Garten, dann tappte ich nach Franzi, geleitete sie zu meiner Brille und gab ihr ein Stück Zucker als Finderlohn. Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Vorgangs führte ich gestern einen Test durch.
    »Franzi!« rief ich. »Such die Augengläser!«
    Franzi spitzte die Ohren, schnüffelte in die Luft und zog mich schnurstracks zum Zuckerbehälter. Ich konnte den Zucker verstecken, wo immer ich wollte - Franz kam ihm unfehlbar auf die Spur. Man kann sich auf das Witterungsvermögen von Hunden verlassen. Sie brauchen keine Brillen.
    Nach langem Nachdenken habe ich jetzt die endgültige Lösung gefunden. Ich nehme meine Brillengläser nicht mehr ab. Ich wasche mich mit ihnen, ich weine mit ihnen, ich schlafe mit ihnen. Und ich träume von ihnen. Ich träume, daß ich sie verloren habe.
    Am Morgen wache ich auf - und was muß ich feststellen? Ich habe sie verloren.

Madeleine

    Jüngst im Abenddämmer, als aus den Orangenhainen ringsum das heisere Lachen der Schakale ertönte und der Wind gelbe Wölkchen von Wüstensand herbeiblies, stand plötzlich Schultheiss in meinem Garten. Ich freute mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Er hatte sich nicht verändert, er war ganz der alte, elegante Schultheiss, jeder Zoll ein Intellektueller von Distinktion. Nur in seinen Augen, ich merkte es sofort, lag etwas sonderbar Trauriges.
    Ich bot ihm Platz und einen Becher bekömmlichen Jordanwassers an. Schultheiss nahm schweigsam einige Schlukke.
    »Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er dann.  
    »Tun Sie das getrost. Ich vermute, daß Sie deshalb hergekommen sind.«
    »Es war nicht leicht für mich, diesen Entschluß zu fassen. Aber ich ertrage es nicht länger. Ich muß mich jemandem anvertrauen. Auch wenn ich ein höherer Regierungsbeamter bin, der seinen guten Ruf zu wahren hat.«
    Ich goß ihm noch eine Portion Jordan nach und machte eine aufmunternde Geste.
    »Wenn ich nur wüßte, wo ich beginnen soll«, begann er. »Sie kennen mich schon lange. Sie wissen, daß ich ein gesunder, ausgeglichener Mensch bin, der

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