In Santiago sehen wir uns wieder
Innenhof, Schatten eines Feigenbaums, kupferfarbene Rosen und das Plätschern eines Brunnens über eine Pilgermuschel hin... und ein Zimmer ganz für mich allein zu einem geringen Aufschlag!
Die Nachtigallen haben den Turmhahn aufgestört, als die Kirchenglocke Mitternacht schlug. »Die Zeit kippt«, sagte er zu der Ameise, die den Kalvarienberg erklommen hatte. »Siehst du denn nicht, wie sich der gestrige Tag in die Nacht aufgebläht hat? Jetzt kippen die Segel und fahren der Sonne zu. Hinter dem Berg hat sie goldene Eier gelegt. Aus denen holt sie die nächste Stunde hervor. Pick pick, machte der Hahn. Die Schale zersprang, ein neuer Tag begann und rollte ins Gras, die Sandkörner der Uhr zerstoben im Wind. »Verstehst du nun?«, fragte der Hahn, immer noch unerschrocken.
»Nein«, sagte die Ameise und legte eine neue Straße an, um die Krümel des neuen Tages in ihre feste Burg zu rollen.
Belorado - San Juan de Ortega
Mittwoch, 2. Juli
Kurz vor 8 Uhr wandere ich aus der Stadt hinaus. Ein Mann kommt mir entgegen: »Schon so früh unterwegs?« - »Ja, nach Santiago«, sage ich. »Santiago?!« Er mustert mich von oben bis unten. »Da haben Sie noch 540 Kilometer vor sich. Muy bien.« Dann gibt er mir die Hand, streicht über meine Wange und sagt: »Buen camino.«
Ich weiß nicht, was los ist heute Morgen. Etwas quält mich. Mir ist, als säße ich gefangen in einer Welt voller Schnipsel und Spalten. Ich selbst - ich habe das Gefühl, als zerbrösle ich mit jedem Wort und mit jedem Gedanken den Kuchen Einheit, von dem ich naschen möchte. Es geht ein Schnitt durch die Welt und durch mich hindurch: hell oder dunkel, richtig oder falsch, schnell oder langsam - »und erlöse uns von dem Bösen«. Da sitze ich nun am Brunnen von Espinosa de Camino. Die Sonne scheint mir frech ins Gesicht, die Wolken ziehen unverschämt schnell über den Himmel, und das böse Gelb der Getreidefelder dominiert das träge Rot der langweiligen Ziegel des Daches links von mir. Es geht ein Schnitt durch die Welt. Pilger ziehen an dem Brunnen vorbei, große und kleine, dicke und dünne, schöne und hässliche. »Hasta luego«, rufen sie mir zu.
Fernanda kommt: »Oh Bella«, ruft sie erfreut, »du hier?« Schon drückt sie mir Begrüßungsküsschen auf die Wangen, eins rechts, eins links. »Wie geht es dir?« frage ich. »Sehr gut«, erwidert sie, »mein Fuß ist wieder heil.« - »Das freut mich für dich.« Im selben Augenblick, in dem ich die Worte ausspreche, erschrecke ich, denn ich merke, dass ich lieber »schade« gesagt hätte. Denn so kann ich sie nicht mehr bedauern. Eine Scheibe Nächstenliebe mit dick Butter und Honig zum zweiten Frühstück. »Wohin gehst du heute?« frage ich. »Nach Burgos« - sie strahlt. »Ah«, sage ich, »da triffst du deinen Freund?« Sie strahlt. »Na, dann bis ein andermal, vielleicht sehen wir uns wieder.« - »Man kann nie wissen, Bella.« - »Also, buen camino, Fernanda« - und weg ist sie, umringt von einer Schar junger Pilger. Ich aber hocke einsam am Brunnen in meiner zerschnittenen Welt und bin ihr gram.
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Schließlich komme auch ich in San Juan de Ortega an. Steil ging es bergauf, kilometerlang zog sich die breite Piste über die Passhöhe zwischen Kiefern, Farn und Erika. Heute Abend sind wir Pilger unter uns, denn außer einer Bar, einem Telefon und uns gibt es nur noch
Hunde und Klosterruinen. Die Pilgermesse. Plötzlich sitze ich als Sopran unter den Sopranistinnen eines Chors aus Lyon. Der Pfarrer, hoch betagt, liest die Messe, wir singen, ein Tenor aus Baden-Baden schmettert das Ave Maria. Zum ersten Mal spüre ich, dass die Pilger eine Gemeinschaft bilden und dass ich dazugehöre. Nach der Messe hält der Pfarrer eine Ansprache:
»Wisst ihr, warum ihr auf dem Camino seid? Nur fünf Prozent der Menschen, die ihn machen, wissen überhaupt, warum sie pilgern. Es ist ein Geschenk Gottes, dass ihr hier seid. Der Camino ist ein universelles Ereignis, er ist wichtig für die gesamte Menschheit. Es gibt internationale Institutionen wie UNO, UNESCO oder NATO, aber noch immer gibt es Krieg, Hass und Zwietracht. Der Camino verbindet die Menschen untereinander, die Nationen. Vor einigen Tagen befanden sich hier in der Kirche Pilger aus fünfzehn Nationen... Ich sage euch, ihr werdet euren Weg nie vergessen, es wird in eurer Erinnerung eine Zeit vor und eine Zeit nach eurer Pilgerschaft geben. Und wenn ihr in Santiago ankommt, dann werdet ihr nicht aufhören zu gehen, ihr
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