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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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Wegrand die Disteln mit ihren hellvioletten Kränzchen, das Rot der Mohnblumen, Getreidefelder. Über mir kreisen Störche in den lichtblauen Nachmittagshimmel hinein. Ich gehe einfach weiter, und das ist nun mein Leben.
     

Der Weg zur Quelle
     
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Jesus antwortete: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst haben, wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird nie wieder dürsten, denn das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer Quelle werden, aus der ihm ewiges Leben zufließt.
Johannes 4,14
     
     

Tardajos - Fuente San Bol
    Samstag, 5. Juli
     
    Die Meseta. Gefürchtet ist sie, diese Hochfläche zwischen Burgos und León. Bon courage pour la meseta, Madame! Der Gruß des Franzosen in Toulouse hallt in meiner Erinnerung. Ihre Trostlosigkeit, keine Bäume, kein Schatten, kein Wasser - sagen die einen. Sie nehmen den Bus und machen einen großen Sprung. Keine Ablenkung von dir selbst, du bist dir vollkommen ausgesetzt, und das ist schwer zu ertragen - sagen die anderen. Nach dem äußeren Weg bis Burgos nun der innere Weg - sagen die dritten. Mir ist bange, aber bisher war alles gut. Sehen, was kommt.
    Heute jedenfalls ist die Meseta freundlich zu mir. Der Wind bläst von hinten. Lerchen umjubeln meinen Weg, Kornfelder, so weit das Auge reicht. »Noch gibt es Kontraste«, sagt ein Pilger, der mir aus Santiago entgegenkommt. »Grün und gelb, im Hochsommer ist alles braun.« Gehen, gehen, immer geradeaus. Ich folge meinem Schatten. Dann steil bergab in eine Talsenke, ein Dorf, eine Bar, ein Pilgertreff. Weiter geht es, bergauf, geradeaus, Felder, Gestrüpp, Steine, Steinmännchen und Pilger, die einzeln oder in Grüppchen durch diese Weite ziehen. Achtung, ein Fahrrad überholt, ein Traktor hüllt alles in Staub, ein Motorrad, von ferne ein Mähdrescher, und wieder Sonne, Wind, Lerchen und Getreidefelder. Meine Füße stapfen voran, eins rechts - eins links, über blaue Büschel blühenden Klees, Skabiosen und Disteln, Schmetterlinge und Ameisen. Das Grollen eines Flugzeugs...
     
    Etwas liegt im Weg. Ein Stein. Meine Füße haben ihn längst erkannt und hüpfen zur Seite. Ich hatte Mühe, hinterherzukommen und das Gleichgewicht zu halten. »Stolperstein, siehst du denn nicht, dass ich unterwegs bin?« Stumm, reglos und verschlossen liegt er da, als kümmere er sich nicht um mich. »Fast wäre ich gefallen, was denkst du dir dabei?« Der Stein weicht nicht von der Stelle. »He du, aufräumen will ich dich, einen Stein, der mir im Weg liegt, aufräumen. Alles hat schließlich seinen Ort und seinen Raum. - Oho, diese Stelle auf dem Weg sei dein Ort in deinem Raum, sagst du, und wie ich dazu komme, dich aus deinem Ort wegräumen zu wollen? - Nun ja, ich will nach Santiago, und da liegt eben dein Ort in meinem Raum. - Welches Recht ich dazu habe, meinst du? - Hm, ich weiß nicht. Vielleicht hast du Recht. Sollte ich etwa vergessen haben, dass ich, eingehüllt in meinen Raum, Fremdlingin bin in einem Raum, der nicht der meine ist? In der Tat, ich habe einen Pfahl in den Raum gerammt und eine Richtung eingeschlagen. Seitdem liegst du mir im Weg und störst mich.« Mein graubraunkantiger Stein hat ein Gesicht, Buckel, Löcher, Nasen und Kanten. Wenn der Wind die Blätter des Baumes über ihm zur Seite bläst und das Sonnenlicht auf ihn fällt, blitzt in den versteckten Winkeln seiner Oberfläche ein winziges Glitzern auf. Mein Stolperstein ist zum Eckstein geworden.
     
    An der Quelle San Bol. In der Kapelle unter dem Gewölbe mit dem gemalten Sternenhimmel fließt eine starke Kraft. Auf die Wand mir gegenüber sind Planeten und die Symbole der verschiedenen Hochreligionen gemalt. Im Zentrum thront Maria als Urmutter, über ihr ein dreieckiges Auge, unter ihr eine Bocksgestalt. »Der Antichrist«, erklärt mir der Hospitalero. Antichrist - das kontrollierend scharfe Auge Gottes - »und erlöse mich von dem Bösen«. Die zerschnittene Welt, denke ich, selbst hier. Aber was ist Einheit?
    Eine Jugendgruppe rastet am Brunnenbecken, andere waschen ihre Wäsche darin, müde Pilger und Wanderer schlafen unter den Bäumen. Schneller als gedacht sind alle Betten des Schlafsaals belegt. Da kommt einer in Sandalen an, lange Haare, Bart, strahlende Augen. So könnte Jesus durch die Wüste gegangen sein. Robin ist seit Wochen unterwegs, als Schäfer verdiente er sich Geld in der Schweiz, um weiterzukommen. Er geht und geht - »manchmal sind es 50 oder gar 60 Kilometer« -, wenn er

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