In Santiago sehen wir uns wieder
müde ist, schläft er, draußen natürlich. »Segne die Quellen, damit ich sie finde und auch draußen übernachten kann«, bitte ich ihn. Er spricht mit den anderen, trinkt ein Glas Wasser - eine wärmende Umarmung, und weiter wandert er.
Der junge Pascal aus der Gironde sitzt mir auf einem Mäuerchen gegenüber. Seine Beine schmerzen, er kann nur noch langsam mit Hilfe seiner Stöcke gehen. »Warum gehst du so schnell?« frage ich. »Ich habe es mir vorgenommen«, antwortet er. - »Es bekommt dir nicht. Lass dir Zeit und hör auf dich. Warum machst du den Jakobsweg?« - »Ich suche Spiritualität, Bella.« - »Was ist das, etwas zum Anfassen?« Pascal schüttelt den Kopf. »Was siehst du dort?« frage ich. - »Nun ja, ich sehe den Himmel und die Pappeln davor.« - »Bist du sicher, dass dieses leuchtend strahlende Blau Himmel ist, die tausend Grüntöne Pappeln sind, und dass die Pappeln vor dem Himmel stehen?« - »Ja, eigentlich schon.« - »Na, stell dich mal auf den Kopf, vielleicht siehst du dann etwas anderes.« Pascal legt sich auf das Mäuerchen, verrenkt den Hals und schaut lange in den Himmel hinauf. »Ja, stimmt, man könnte den Himmel auch als etwas anderes sehen, als einen See zum Beispiel, und das Grün der Pappeln als Inseln. Aber ich bin es nicht gewohnt...« - »Ja, freilich, es wäre auch etwas unpraktisch. Stell dir einen Piloten vor!« Pascal lacht. »Aber Kinder, die können das, die brauchen sich um Realität nicht zu kümmern.« - »Realität, Pascal, was ist das? - Anders sehen, >mit den Augen eines Kindes< - ein großer Maler hat es so formuliert.« Pascal und ich kneifen die Augen zusammen, formen aus unseren Händen Rahmen wie Guckfenster, um aus den Dingen Ausschnitte zu machen -
»so ist es leichter. Konzentrier dich auf die unzählbaren Schattierungen der Farben, Pascal, und freu dich an ihnen...« - »Und dann, Bella?« - »Du hast noch viele Kilometer vor dir, Pascal. Tu es einfach - vielleicht sehen wir uns wieder.« Es ist dunkel geworden, wir gehen schlafen. Ins Hüttenbuch schreibe ich: »Es ist schwer, an der Quelle den Weg zur Quelle zu finden - aber das ist der Weg.«
Fuente San Bol - Fuente El Piojo
Sonntag, 6. Juli
Mary aus Australien hat neben mir geschlafen. Sie ist so still, so liebevoll, dass ich sie frage, ob sie nicht eine Zeit lang mit mir zusammen wandern möchte. Durch die Meseta zu zweit - sie akzeptiert.
Und wieder auf dem Jakobsweg. Bergauf geht es und bergab, unsere Schatten ziehen voraus, der Wind im Rücken schiebt uns. Wir sind glücklich, wir zwei. Mal reden wir, dann schweigen wir wieder. Mary erzählt von ihren Begegnungen auf dem Jakobsweg: »Der Camino ist eine Kostbarkeit. Alle haben andere Gründe, ihn zu gehen, aber sie gehen ihn.« Marco aus Brasilien hatte einen Traum, in dem spanische Städte auftauchten, die Städte des Camino - er folgte dem Ruf und machte sich auf den Weg. Dann traf Mary einen jungen Mann, der auf Pilgerschaft gegangen war, um den Tod seines kleinen Kindes zu betrauern. »Und warum gehst du ihn, Mary?« frage ich. »Ich war Bibliothekarin, seit drei Jahren bin ich in Rente. Ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll.« Mary hat schon einen langen Weg hinter sich, denn sie begann den Jakobsweg in Le Puy. Ich bewundere ihre Energie und Ausdauer. Sie ist klein und zierlich, und ihr Rucksack wiegt mehr als der meine. »Mein Mann wollte mich nicht gehen lassen. Als er aber hörte, was ich bei der Pilgersegnung dem Bischof über meine Motivation sagte, verstand er endlich und ließ mich ziehen. Jetzt unterstützt er mich. - Weißt du, was mir in Burgos so gut gefiel?« fährt Mary fort. »Abends kommen die Bewohner der Stadt auf die Straße herunter. Sie nehmen auch die Kinder und die Alten mit. Dann sind sie fröhlich, sie singen, lachen und unterhalten sich. Es ist ihnen nie langweilig. Das Leben in Spanien, es ist so anders als bei uns.« - »Ja, Mary, dieses pralle Leben hier ist herrlich«, sage ich und denke an zu Hause und die hochgeklappten Gehwege am Abend. »Hier in der Meseta - die Weite, es ist einfach herrlich.«
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Das Kloster San Antón. Zur Ruine zerfallen; selbst die Pilgerherberge in den Mauern des Klosters musste wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. Gotisches Maßwerk und schmale Spitzbögen schneiden das Blau des Himmels aus, als wäre es Seidenpapier. Seltsam, die aus einem Kranz des Buchstabens >T< gebildete Rosette. »Das Zeichen T steht für Tao«, sagt Emilia aus
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