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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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verhungert Treibsand im Wind Tropfen im Feuer durchsichtig wie Glas auf Wanderschaft und ohne Bedeutung die Füße in der Hand die Augen vergittert ein Blatt auf der Diele eine Wabe ohne Honig ein Hummer ohne Scheren ein Fisch ohne Gräten eine Sonne ohne Glanz ein Mond ohne Schein Ich hin ein Nichts ein No-Name und ein Niemand vergessen...
     
    16 Uhr. Die Kirche ist geöffnet. Die klare Geometrie des gotischen Maßwerks, Alabasterscheiben, weißreines Licht. Unter einem Baldachin mit elektrischen Sternchen am dunkelblauen Himmel sitzen eine lächelnde Madonna und ihr segnender Sohn. Ein stärkender Energiestrom geht von ihnen aus. An der Kasse kaufe ich eine Postkarte für meinen Vater.
    »Bleib noch eine Nacht hier«, sagt der Hospitalero, »ich gebe dir das kleine Zimmer, ruh aus und dann reden wir zusammen - was ist los mit dir? Du brauchst noch viel...« - er hält meine Hand. »Das Herz, weißt du, ist der Schlüssel«, sage ich, »aber du kannst es dir nicht von den Bäumen pflücken.«
     

Santo Domingo de la Calzada
    Montag, 30. Juni
     
    Der Hahn in seinem Käfig kräht, als ich in der Kirche sitze und die Skulpturen im Chor bewundere. Das Palmettenband vor mir! Jeder Versuch, es abzuzeichnen, muss misslingen. In der Gruft des Heiligen kniet eine Frau vor dem Sarkophag und betet. Dann steht sie auf, geht um den Sarkophag herum, kniet wieder nieder und betet. Sie wandert, sie kniet, sie geht und betet. Am Fuße des Sarkophags steht eine Vase mit roten, voll erblühten Gladiolen. Rote Gladiolen! Da sehe ich die Vase mit den Geburtstagsgladiolen am Fußende eines Bettes, in dem meine Mutter nicht mehr liegt. An den Vater schreibe ich: »Hab Vertrauen in deinen Weg durch das große Tor...«, und der Schwester: »... ich hoffe, dass wir uns eines Tages in Herzlichkeit als Schwestern wiederfinden.« Als ich in Azofra ankomme, ist der Hospitalero verschwunden. An der Tür steckt ein Zettel: »Ich musste wegfahren und komme spät wieder. Der Schlüssel liegt in der Bar.«
     

Azofra – Belorado
    Dienstag, 1. Juli
     
    Es ist schwer, die Ereignisse der letzten Tage abzustreifen. Tausend gelbe Sterne am Wegesrand, blassviolette Skabiosen dazwischen. Ich höre nicht, dass ein Bagger von hinten kommt. Knapp fährt er an mir vorbei. Rast in einem Getreidefeld. Goldgelb bis in jeden Winkel der gewellten Hochfläche; saftige Flecken mit Bäumen und Kartoffelfeldern, Hügel aus moosgrün zerschlissenem Samt, ferne dunstblaue Berge im Süden und im Norden.
     
    »Sag mir, wie soll ich den Felsbrocken heben?« fragte der Frosch. »Spring drüber hinweg«, sagte die Kröte. »Wie soll ich den Berg versetzen?« fragte die Amsel. »Flieg drüber hinweg«, sagte die Drossel. »Und du, mein Herz«, fragte ich, »wie werde ich deine Gewichte los?« - »Zieh der sinkenden Sonne nach und suche den Ort, wo deine Füße im Torbogen wartend stehen.«
    Es war, als hätte der Himmel die Erde still geküsst. Ich nehme mein Bündel und ziehe dem Wind und den Wolken entgegen.
     
    In Belorado angekommen. Heute bin ich stolz auf mich. Nach einer schlaflosen Nacht habe ich 23 Kilometer geschafft. Stundenlang ging es an der Nationalstraße entlang, gegen Wind, Staub, Lärm und Gestank. Ich zog meinen optischen Horizont auf den Ausschnitt meiner Brillengläser zusammen, setzte Stiefel um Stiefel in das graubraun steinige Rund zu Füßen - eins rechts, eins links - und schob es nach hinten - eins rechts, eins links. An den Rändern Gelb, Grüngrau, Lila, Violett und Blau, dann und wann der Purpur einer hoch aufgerichteten Stockrose. Ich gehe durch die Dörfer Kastiliens, ärmlich, halb zerfallen sind sie. Zerzauste Hunde, Katzen ohne Schwanz, weinende Fassaden. Aber immer wieder ein Brunnen, ein Schatten spendender Baum, Hortensien, Rosen und ein freundliches >Hallo< oder >Buen Camino<.
    Über Mittag liege ich auf einer Bank, schaue in den Himmel. Ich stelle mir vor, er sei ein See, und ich flöge unbeschwert über ihn hinweg. Schwalben landen im gezackten Ufer einer Dachtraufe. Fragen formen sich: Was ist das eigentlich, das Leben, in dem ich so herumschwimme, und ich selbst, was ist das eigentlich? Was ist der Motor, der dies alles antreibt, das Kommen, das Verwandeln und das Vergehen? »Es ist die Zeit, Bella«, antworten die Silberwolken unter mir. »Die Zeit - die Zeit ist ein Geheimnis, ein Mysterium. Du wirst es nie ergründen, weil du ein Teil dieses Mysteriums bist. Also, gib dich zufrieden.«
    In der Herberge ein tröstender

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