In Santiago sehen wir uns wieder
warum antworte ich immer gleich so offen. »Hast du ihn rausgeschmissen?« - »Es könnte auch andersherum sein«, sage ich - »tröste Mama« steckt mir im Hals, und meine Augen werden feucht. »Was ist denn jetzt los?« sagt er. »Na ja, wir im Rheinland, wir weinen und dann lachen wir wieder, das wirst du auch noch hinkriegen.« Der andere trinkt und trinkt, auch Hochprozentiges, ich hingegen würge an meinem Essen. Nach einer Weile sagt er: »So, und jetzt sag mir doch, warum du so schnell Tränen in den Augen hast.« - »Ich bin auf dem Camino«, antworte ich, »auch weil ich meine Lasten abladen und - wie du sagen würdest - meine Leichen im Keller ausgraben und ordentlich beerdigen möchte. Das macht dünnhäutig.« - »Ein Tadel?« fragt der andere. »Nein, jeder hat das Recht darauf, mit den Verletzungen seines Lebens umzugehen, wie er will.« Er redet, lacht und trinkt, seine Zunge wird schwer, aber ich, ich bin mit meiner Seele bei Mathieu und seinem Leid. »Du strafst gern?« fragt der andere und redet mich mit dem Doppelnamen einer deutschen Politikerin an, die ich nicht ausstehen kann. »Warum beleidigst du mich?« frage ich, »was habe ich dir getan?« Ach, da taucht plötzlich aus tiefstem Untergrund eine Erinnerung auf! Die Party ist zu Ende, wir fahren nach Hause. Er hat getrunken, ich nicht, weil nur ich einen Führerschein habe und deshalb fahren muss. Wir unterhalten uns über den Abend. Irgendwann kommt vom Nebensitz: »Wie war ich?... Wie fandest du?... Weswegen sagten die...?« Ich versuche, diplomatisch zu antworten, aber je näher wir unserer Wohnung kommen, desto aggressiver wird der andere. Diesen speziellen Zungenschlag - ich kenne ihn... Streit im Anmarsch... ich weiß es und bin doch nicht gewappnet. Nüchtern sitze ich am Steuer, versuche die Kurven zu kriegen, die Ampeln nicht zu übersehen, es ist spät in der Nacht. Grundsatzprobleme fliegen durchs Fenster, Altes, längst Vergangenes. Wir kommen zu Hause an, ein letzter Dolchstoß. Ich liege wach. Der neben mir ist längst eingeschlafen, aber am nächsten Morgen weiß er von nichts. - »Du strafst gern?« Ich stehe auf von einem Stuhl, auf dem ich viel zu lange gesessen habe, und gehe in die Herberge.
Die Sonne geht unter, als ich auf den Balkon trete und auf die Straße schaue. Der Abendhimmel spiegelt sich in den glänzend polierten Autodächern und bildet einen leuchtenden, schimmernden Weg. Den wirklichen Weg zu finden, den Weg unter dem Weg, ist schwierig, denke ich beim Einschlafen. Der Lärm von der Straße klingt zu mir herauf wie ferne Musik.
San Millán de la Cogolla, Kloster Suso und Kloster Yuso – Cañas
Sonntag, 29. Juni
Kloster Suso. Es läutet 10 Uhr vom Tal herauf, gleich wird das Kloster geöffnet. Ich sitze auf der Mauer vor der Pforte und fühle mich elend und verspannt. »Du bist vollkommen in Ordnung, Bella, du kommst auch noch dahinter«, sagt eine Stimme in mir. Dann befinde ich mich in der Kirche eines Klosters, dessen Existenz bis ins 6. Jahrhundert zurückreicht. Endlich versteht der Aufseher, dass ich lange bleiben möchte. Ich zeichne die Hufeisenbögen in ihren zahlreichen Überschneidungen. Zwischen den Führungen, die wie ein kurzes Rauschen durch den Ort hallen, ist es still. Ich versuche, meine Lieder zu finden. Dann spüre ich meine Wurzeln hinunter in die Erde wachsen, durch die Erde hindurch in das tiefe Wasser, das ich schon seit Eunate kenne. »Der Weg gibt dir, was du brauchst«, höre ich sagen. Ihn erst einmal finden! Das Suchen ist das Ziel. Plötzlich habe ich das Bedürfnis, das Vaterunser zu sprechen. Zu meinem Erstaunen finde ich nur noch Fragmente in meiner Erinnerung: Schuld... Versuchung... das Böse... kommen darin vor. Diese Wörter sind mir auf einmal sehr fremd. Ich bin erstaunt und gehe hinunter zum Kloster Yuso.
Ein Deutsch sprechender Mönch zeigt einem holländischen Ehepaar und mir die Schätze des Klosters. Kostbare Elfenbeintäfelchen, Reliquiare, das Belüftungssystem der Bibliothek, die wandernden Blicke der gemalten Damen und Herren - ich nehme alles nur halb wahr, meine Seele, ich oder mein Herz sind ganz woanders. Am Nachmittag gehe ich ins Tal, eine Spanierin nimmt mich ein Stück weit mit. Cañas. Im Vorgarten des Zisterzienserinnenklosters lege ich mich auf eine Bank. Ein kühler Rasen, summende Bienen, der Duft der Lindenblüten, Lavendel.
In mir singt ein Lied...
Ich bin ein Nichts ein No-Name und ein Niemand vergessen verstoßen verbrannt
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