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In Santiago sehen wir uns wieder

In Santiago sehen wir uns wieder

Titel: In Santiago sehen wir uns wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Uhde-Stahl
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hinauf.« Ich könne nach dem Besuch der Klöster Suso und Yuso zu Fuß zurücklaufen, auf dem Rückweg das Zisterzienserkloster Cañas besichtigen und dann eine weitere Nacht in seiner Herberge verbringen. »Gern«, sage ich, »und sicher hast du irgendwelche verspannte Muskeln, die sich über eine Behandlung freuen.« Er nimmt mein Angebot an: »Ja, mein Hirn ist auch verspannt, in dieser Jahreszeit ist viel los. Heute ist wohl eine Ausnahme. Die Pilger sind manchmal schwierig. Kam doch neulich einer an und wollte mich zwingen, ihn schon um 12 Uhr aufzunehmen. Als ich ablehnte, holte er die Polizei!« Der Hospitalero ist wütend. »Diese Billigtouristen, die es jetzt gibt, jedes Jahr werden es mehr. Ich möchte gern Pilgern auf ihrem Weg helfen, aber nur den richtigen Pilgern.« - »Was ist ein richtiger Pilger?« frage ich. »Na, jedenfalls einer, der sich nicht nur für Kunst und Kultur interessiert, alles fotografiert und billig unterkommen möchte; oder einer, der möglichst sportlich in kurzer Zeit lange Strecken hinter sich bringt. Der Pilger sucht etwas, was auch immer - ich bin den Camino schon neun Mal gegangen. Das Suchen ist das Ziel - ich suche immer noch. Im Winter mache ich mich wieder auf den Weg...«
     
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    Am Abend gehe ich in die Bar. Einer humpelt mir entgegen. »Hallo«, sage ich zu ihm, »was ist mit deinem Bein los?« - »Mein Knie tut weh, ich kann es nicht mehr beugen«, antwortet er. Dann erklärt mir Mathieu aus Kanada, dass er sich - mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken - niedergekniet habe, um einen Stein aus dem Stiefel zu entfernen. Beim Aufstehen habe sich etwas verschoben, seitdem könne er sein Bein nur unter größten Schmerzen bewegen. »Oje, lass mal schauen«, sage ich. Mir ist sofort klar, dass ich nichts machen kann, es sind die gleichen Symptome wie bei Diana aus Neu-Mexiko. »Mathieu, ich fürchte, dass dein Meniskus beschädigt oder gerissen ist.« Ich versuche, ihm die Anatomie eines Kniegelenks zu erklären. »Könnte es sein, dass meine Pilgerreise in Gefahr ist?« - »Du musst auf jeden Fall zum Arzt, und wenn es der Meniskus ist, dann... ach... mach dich drauf gefasst.« - »Bella«, sagt Mathieu, »ich habe so lange auf den Weg hingearbeitet, zwei Jahresurlaube zusammengelegt, und wenn ich ihn abbrechen muss... ich kann es mir nicht vorstellen.« Er sitzt wortlos da, Tränen laufen über seine Wangen. »Mathieu, ich bin ja nicht sicher, aber - kennst du das Thema Grenzen? Die eigenen Grenzen respektieren?« Ja, sagt er, das Thema habe etwas mit ihm zu tun. Dann erzählt er mir die Geschichte einer Pilgerin, die im Rollstuhl und in Begleitung eines Hundes den Jakobsweg durch Frankreich gemacht habe. »In Roncesvalles ließ man sie wegen des Hundes nicht übernachten - unglaublich, eine Frau im Rollstuhl!« Am nächsten Morgen verließ sie die Straße, um auf dem bezeichneten Fußweg weiterzufahren. »Aber der ist doch viel zu gefährlich für einen Rollstuhlfahrer. Irgendwann sah ich eine Ambulanz an mir vorbeifahren... ja, es war Juliette. Wir hatten Mühe, sie aus dem tiefen Graben herauszuholen, in den sie gestürzt war, als ihr Rollstuhl umkippte. Sie war schwer verletzt. Bella, das hat doch auch etwas mit Grenzen zu tun? Mit dem Rollstuhl! Du kannst mit ihm weder die Wanderwege benützen noch die Autostraßen, auch am Rand nicht, das ist lebensgefährlich. Diese Frau hatte nichts vorbereitet, sie kannte die Route nicht, nicht die Übernachtungsmöglichkeiten, nichts! Sie hat einfach ihre Grenzen nicht akzeptiert.«
    Was sind Grenzen, meine Grenzen, denke ich beunruhigt. Gestern bin ich im Kloster bei der Kasse über eine Stufe gestolpert und - weich! - auf meinem Rucksack gelandet. Jeder unbedachte Schritt kann das Ende meiner Reise bedeuten. Mathieu zieht einen gelben Zettel aus der Tasche. Darauf steht etwas über Achtsamkeit. »Ja, im Hier und Jetzt präsent sein, das ist es, Mathieu, wie schwer es ist!« Ich reiche ihm die Postkarte meiner Lieblingsmadonna, und wir umarmen uns voller Wärme und Herzlichkeit.
     
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    Im Speisesaal sitzt einer aus Deutschland. Ich setze mich neben ihn, bestelle ein Menü. »So, auch aus Deutschland«, sagt er. »Ach, aus dem Schwabenland? Die Schwaben, die sind schon speziell.« - »Mag sein«, sage ich und denke jetzt besser nicht an die Kehrwoche. Er fragt mich nach meinem Namen. »Was? Frauen mit einem Doppelnamen haben unter Garantie einen toten Mann im Gepäck. Sie sind misstrauisch.« Blöd, denke ich,

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