In seinen Händen - Coben, H: In seinen Händen - Caught
einem so eine Tragödie nur die Scheuklappen von den Augen?
Es klingelte. Ziemlich spät. Gleich darauf wurde ungeduldig mit einer Faust an die Tür getrommelt. Ed reagierte sofort, ohne nachzudenken, sprang auf und nahm seine Pistole vom Nachttisch. Wieder klingelte es, und er hörte Schläge an der Tür.
»Mr. Grayson? Polizei. Machen Sie die Tür auf.«
Ed sah aus dem Fenster. Zwei Cops von der Sussex County Police in braunen Uniformen - der große, schwarze Sheriff Walker war nicht dabei. Das war ziemlich schnell gegangen, dachte Grayson. Er war eher etwas überrascht als wirklich schockiert. Er legte die Pistole weg, ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür.
Die Cops sahen aus, als wären sie ungefähr zwölf Jahre alt.
»Mr. Grayson?«
»Die richtige Anrede lautet Federal Marshal Grayson, mein Sohn.«
»Sir, Sie sind verhaftet wegen der Ermordung Daniel J. Mercers. Bitte nehmen Sie Ihre Hände hinter den Rücken, während ich Ihnen Ihre Rechte vorlese.«
SIEBZEHN
L eicht benommen verabschiedete Wendy sich von ihrem alten (und wieder aktuellen?) Boss Vic Garrett und legte den Hörer auf.
Die Polizei hatte Haley McWaids iPhone unter Dan Mercers Bett gefunden.
Sie versuchte, diese Information zu verarbeiten, und spürte dabei ihren Empfindungen nach. Ihr erster Gedanke war ganz natürlich: Das Schicksal der McWaids ging ihr wahnsinnig nah. Sie hoffte inbrünstig, dass es für sie irgendwie noch ein gutes Ende nahm. Okay, sieh tiefer in dich hinein. Ja, Wendy war schockiert. Genau das war es. Vielleicht sogar zu schockiert. Hätte sie nicht in irgendeiner Form erleichtert sein müssen? War das nicht der Beweis, dass ihre Einschätzung in Bezug auf Dan von Anfang an richtig gewesen war? Dass nicht doch der Gerechtigkeit Genüge getan worden war? Und dass sie nicht ein Werkzeug in einem ausgefeilten Plan gewesen war, der dazu diente, einen unschuldigen Mann zu zerstören, der eigentlich nur Gutes tun wollte?
Auf dem Bildschirm vor sich war immer noch die Facebook-Seite von Dans Abschlussjahrgang in Princeton geöffnet. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Dachte an Dans Gesicht am Tag ihrer ersten Begegnung, an das erste Interview im Jugendzentrum, an die Begeisterung, mit der er von den Jugendlichen sprach, die er von der Straße geholt hatte, an die Ehrfurcht, mit der diese Kids ihn ansahen, und auch daran,
wie sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Sie dachte daran, wie sie ihn gestern in dieser verdammten Wohnwagensiedlung gesehen hatte, an die schrecklichen Blutergüsse in seinem Gesicht, die Trauer in seinen Augen, und dass sie ihm, trotz alldem, was sie wusste, eine helfende Hand reichen wollte.
Konnte sie ihre Intuition wirklich einfach so abtun?
Sie wusste natürlich, dass das Böse in allen Verkleidungen auftreten konnte. Zigmal hatte sie sich das Beispiel des berüchtigten Serienmörders Ted Bundy vor Augen geführt. Andererseits hatte sie Ted Bundy nie auch nur ansatzweise attraktiv gefunden. Vielleicht auch deswegen, weil sie ihn von Anfang an als Mörder wahrgenommen hatte und man im Nachhinein immer klüger war, aber sie hatte die Leere in seinem Blick gesehen. Sie war überzeugt davon, dass sie ihn für einen schmierigen, schleimigen und absolut uncharmanten Schurken gehalten hätte. Man konnte das Böse spüren. Das ging einfach. Sie glaubte es zumindest.
Bei Dan war es ihr jedenfalls nicht so ergangen. Selbst kurz vor seiner Ermordung hatte er noch Freundlichkeit und Wärme ausgestrahlt. Und inzwischen war es ja auch mehr als reine Intuition. Diese Sache mit Phil Turnball und Farley Parks kam dazu. Irgendwo da draußen lief etwas anderes ab, etwas Hinterhältiges, Undurchschaubares.
Sie öffnete die Augen und beugte sich vor. Okay, Facebook. Sie hatte sich eingeloggt, die Seite des Princeton-Abschlussjahrgangs gefunden - wie konnte sie jetzt Mitglied dieser Gruppe werden? Es musste eine Möglichkeit geben.
Frag doch einfach den heimischen Facebook-Experten, dachte sie.
»Charlie!«
Von unten: »Was?«
»Kannst du mal raufkommen?«
»Ich versteh dich nicht.«
»Komm hier rauf!«
»Was?« Dann: »Weshalb?«
»Komm doch bitte einfach mal eben rauf.«
»Sag doch einfach, was du von mir willst.«
Sie nahm ihr Handy und schickte ihm eine SMS, in der sie ihm mitteilte, dass sie dringend Hilfe am Computer bräuchte, und wenn er nicht sofort käme, würde sie all seine Online-Konten löschen, obwohl sie gar nicht wusste, wie sie das hätte machen sollen. Einen
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