In seiner Hand
sah aus, als wäre der Laden schon seit Wochen nicht mehr offen. Auf dem Gitter klebten Poster, die mit Graffitis übersprüht waren. Ich trat vor das Gitter und drückte dagegen, aber es rührte sich nichts. Ich spähte durch den Briefschlitz und konnte auf dem Boden einen hohen Stapel Post liegen sehen. Schließlich ging ich in den Laden nebenan. Hinter der Ladentheke standen zwei Asiaten. Der Jüngere füllte gerade den Zigarettenständer auf, während der andere, ein älterer Mann mit weißem Bart, die Abendzeitung las.
»Ich suche Vic Murphy«, sagte ich zu ihm.
Er schüttelte den Kopf. »Kenne ich nicht«, antwortete er.
»Er hat den Laden nebenan betrieben. Wo es Holz und Weihnachtsbäume zu kaufen gab.«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Den gibt es nicht mehr. Geschlossen.«
»Wissen Sie, was aus dem Mann geworden ist?«
»Nein. Der Laden taugt nichts. Ständig kommen neue Leute, aber am Ende müssen sie alle wieder schließen.«
»Es ist wirklich wichtig, dass ich diesen Vic Murphy finde«, erklärte ich.
Die beiden Männer grinsten sich an. »Schuldet er Ihnen Geld?«
»Nein«, antwortete ich.
»Ich glaube, er hat ein paar Rechnungen nicht bezahlt.
Es waren schon ein paar Leute seinetwegen hier. Aber da war er längst weg.«
»Es gibt also keine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen?«
Der Mann zuckte erneut mit den Schultern. »Es sei denn, Sie fragen den Typen, der immer das Zeug für ihn ausgeliefert hat.«
»Wer ist das?«
»Er heißt George.«
»Haben Sie seine Telefonnummer?«
»Nein. Ich weiß aber, wo er wohnt.«
»Können Sie mir die Adresse sagen?«
»Baylham Road. Nummer neununddreißig, glaube ich.«
»Wie hat dieser Vic Murphy ausgesehen?«
»Ziemlich seltsam«, antwortete der Mann. »Aber man muss auch ziemlich seltsam sein, um so einen Laden zu betreiben. Ich meine, Holz und Weihnachtsbäume.
Schätzungsweise war der Typ nur irgendwie an einen Schwung Holz gekommen. Den wollte er verhökern, und anschließend ist er weitergezogen.«
»Hatte er Katzen?«
»Katzen?«
»Ich möchte eine Katze kaufen.«
»Dann sollten Sie in eine Zoohandlung gehen, meine Liebe.«
»Ich habe gehört, Vic Murphy habe Katzen verkauft.«
»Davon weiß ich nichts. Vielleicht hatte er eine. Es laufen immer ein paar Katzen herum, aber man weiß nie genau, wem sie gehören, stimmt’s?«
»Darüber habe ich noch nicht so genau nachgedacht«, antwortete ich.
»Sie mögen jeden, der sie füttert. Katzen, meine ich.«
»Wirklich?«
»Ganz anders als Hunde. Mit einem Hund ist man besser dran. Ein Hund ist ein richtiger Freund.«
»Das werde ich mir merken.«
»Und außerdem ein Schutz.«
»Ja.«
»Ich glaube nicht, dass Sie Ihr Geld zurückbekommen werden.«
»Was?«
»Von diesem Vic Murphy.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er mir kein Geld schuldet.«
»Das haben die anderen auch gesagt. Sie haben behauptet, sie seien Freunde von ihm. Um zu verhindern, dass er gleich Reißaus nimmt.«
Ich holte mein Foto von Jo aus der Tasche.
»War dieses Mädchen auch dabei?«, fragte ich.
Der Mann warf einen Blick auf das Bild.
»Sie ist eine Frau«, sagte er.
»Das stimmt.«
»Es waren lauter Männer. Bis auf Sie.«
27
Ich brach ein weiteres Mal auf. Inzwischen hatten die Leute ihre Büros verlassen und trotteten durch die kalten, dunklen Straßen nach Hause. Männer und Frauen, die mit gesenktem Kopf gegen den Wind ankämpften und nichts anderes im Sinn hatten, als möglichst schnell an einen warmen Ort zu gelangen. Ich dagegen hatte nichts anderes im Sinn, als möglichst schnell diese Adresse aufzusuchen.
Mir war klar, dass ich Jos Spur ebenso verloren hatte wie meine eigene. Dennoch hatte ich mein Ziel so verlockend nahe vor Augen gehabt, dass ich fest entschlossen war, auch noch dem letzten Anhaltspunkt zu folgen.
Ein Lastwagen donnerte vorbei und bespritzte mich von oben bis unten mit Matsch. Fluchend wischte ich mir die Spritzer aus dem Gesicht. Vielleicht sollte ich einfach nach Hause gehen? Aber wo war mein Zuhause? Ich würde wieder bei Sadie unterschlüpfen müssen. Allerdings konnte ich den Gedanken, dort wieder aufzutauchen, kaum ertragen – den Kreis zu schließen und genau dort zu enden, wo der Alptraum seinen Anfang genommen hatte, ohne das Geringste erreicht zu haben. Ohne auf etwas anderes gestoßen zu sein als auf Angst.
Ich blieb auf dem Gehsteig stehen, holte Bens Handy aus der Tasche und hielt es eine Minute lang reglos in der Hand, während
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