Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
Wegbeschreibung aus der Tasche und warf einen Blick darauf. Ich bog in die zweite Straße rechts ein, Baylham Road, die von Bodenschwellen durchsetzt und von hohen Ligusterhecken gesäumt war. Die Straße führte einen kleinen Hügel hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinunter. Auf beiden Seiten standen Häuser. In den meisten brannte Licht, und aus den Kaminen stiegen Rauchsäulen auf, friedliche Zeugen vom Leben anderer Leute.
    Laut den Männern aus dem Laden lag Nummer neununddreißig auf der linken Straßenseite, direkt am Fuß des kleinen Hügels. Aus der Ferne war kein Licht zu sehen. Obwohl ich ohne große Erwartungen gekommen war, verstärkte sich mein trauriges Gefühl, einer falschen Spur zu folgen. Frustriert trottete ich den Hügel hinunter und blieb vor Nummer neununddreißig stehen.
    Im Gegensatz zu den anderen Häusern war das Gebäude ein Stück von der Straße zurückgesetzt. Man betrat das Grundstück durch ein halb verrottetes Holztor, das locker in den Angeln hing und bei jedem Windstoß knarrte. Ich schob es auf. Es war mein letzter Versuch. Ein paar Minuten noch, dann hatte ich es geschafft. Dann hatte ich wirklich alles getan, was in meiner Macht stand. Vor mir erstreckte sich ein Hof voll zugefrorener Schlaglöcher.
    Allerlei Gerümpel ragte aus der Dunkelheit auf: ein Berg Holzspäne, ein Schubkarren, ein rostiger Anhänger, ein Stapel Gummireifen, zwei Gebilde, die wie Nachtspeicheröfen aussahen, ein auf dem Rücken liegender Stuhl, von dem ein Bein fehlte. Das Haus lag auf der linken Seite des Hofs, ein zweistöckiges Ziegelgebäude mit einem kleinen Vorbau über dem Eingang. Neben der Tür standen ein gesprungener Terrakottatopf und ein Paar riesige Gummistiefel, die mich einen Moment lang hoffen ließen, dass der Mann doch zu Hause war. Ich drückte den Klingelknopf, hörte es drinnen aber nicht läuten, so dass ich stattdessen mit den Fäusten ein paarmal heftig gegen die Tür schlug. Während ich wartete, trat ich fest von einem Bein aufs andere, um meine Zehen wieder zu spüren. Im Haus regte sich nichts, niemand reagierte auf mein Klopfen. Ich presste das Ohr an die Tür und lauschte. Kein Laut war zu hören.
    Dann war es das gewesen. Ich wandte mich zum Gehen.
    Erst jetzt bemerkte ich, dass der große Hof vor dem Haus früher Teil eines Pferdestalls gewesen sein musste. Unter dem klaren Himmel konnte ich einzelne Pferdeboxen erkennen, und bei genauerem Hinschauen sah ich, dass über jedem Tor in verblassten Großbuchstaben ein Name prangte. Spider, Bonnie, Douglas, Bungle, Caspian, Twinkle. Pferde aber waren keine mehr da, und alles deutete darauf hin, dass das schon seit langer Zeit so war.
    Bei den meisten Boxen fehlte das Tor. Statt nach Stroh und Pferdemist roch es nach Öl, Farbe, Werkzeug. Bei einer der Boxen stand der obere Teil des Tors offen. Der Innenraum war feucht und mit allerlei Unrat vollgestellt –
    Farbdosen, Holzplanken, Glasscheiben. Statt des Wieherns und Schnaubens von Pferden hing eine drückende Stille in der Luft.

    Dann hörte ich plötzlich ein Geräusch. Ich hatte den Eindruck, dass es aus dem flachen Gebäude kam, gegenüber dem Haus auf der anderen Hofseite. Vielleicht war dieser George doch da. Ich machte ein paar Schritte in die Richtung des Geräuschs.
    »Hallo?«, rief ich. »Hallo, ist jemand zu Hause?«
    Keine Antwort. Ich blieb stehen und lauschte. In der Ferne waren Autos zu hören, und irgendwo spielte Musik, das schwache Dröhnen von Bässen bebte durch die Nachtluft.
    »Hallo?«
    Ich ging zu dem Gebäude hinüber und blieb zögernd davor stehen. Es war aus Ytongblöcken errichtet und hatte keine Fenster. Das große Tor war mit einem schweren Riegel verschlossen. Wieder hörte ich ein Geräusch, es klang wie ein langgezogenes Summen oder Stöhnen. Ich hielt die Luft an. Da hörte ich es ein weiteres Mal.
    »Ist hier jemand?«, rief ich wieder.
    Dann schob ich den Riegel hoch und stemmte mich gegen das schwere Tor, bis es so weit aufschwang, dass ich hineinspähen konnte, aber drinnen war es kalt und finster – wo das schwache Mondlicht nicht hinfiel, sogar stockfinster. Dort war bestimmt niemand, außer möglicherweise einem Tier. Ich dachte erst an Mäuse und Fledermäuse, dann an Ratten, die auch nie fern waren und sich von Essensresten und toten Tieren ernährten, von denen sie dick und aufgedunsen wurden. Ich stellte mir vor, wie sie hier unter den Bodenbrettern herumkrochen, mit ihren scharfen gelben Zähnen und dicken

Weitere Kostenlose Bücher