Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
links und rechts die Leute an mir vorbeidrängten. Schließlich schaltete ich es ein. Auf der Mailbox waren zwölf neue Nachrichten. Ich hörte sie ab.
    Drei waren für Ben, von Leuten, deren Namen mir nichts sagten. Acht waren von Ben an mich, wobei jede verzweifelter klang als die vorherige. Die achte lautete einfach nur: »Abbie.« Das war alles. »Abbie.« Es hörte sich an, als würde mir jemand aus weiter Ferne zurufen.
    Die letzte Nachricht war ebenfalls für mich, von Cross.
    »Abbie«, begann er mit strenger Stimme. »Hören Sie mir zu. Ich habe gerade mit Mr. Brody gesprochen, der sich offenbar große Sorgen um Sie macht. Ich würde Ihnen dringend raten, uns zumindest wissen zu lassen, wo Sie sich aufhalten und ob Sie in Sicherheit sind. Bitte rufen Sie mich an, sobald Sie diese Nachricht erhalten.«
    Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:
    »Ich meine es ernst, Abbie. Setzen Sie sich mit uns in Verbindung. Sofort.«
    Ich schaltete das Handy aus und steckte es wieder in meine Tasche. Jack Cross hatte Recht. Ich musste ihn sofort anrufen und ihm mitteilen, was ich entdeckt hatte.
    Auf der anderen Straßenseite lag ein Pub, The Three Kings. Ein warmer Raum voller Rauch und Lachen, verschüttetem Bier und Klatschgeschichten. Ich würde schnell bei dem Typen mit dem Lieferwagen vorbeischauen und mir die Adresse von Vic Murphy geben lassen. Dann würde ich in den Pub gehen, mir einen Drink und Chips bestellen und anschließend Cross anrufen, um ihm mitzuteilen, was ich herausgefunden hatte. Dann konnte er damit machen, was er wollte. Ben würde ich auch anrufen. Ich musste ihm zumindest sein Handy zurückgeben. Und danach … aber ich wollte noch nicht daran denken, was ich danach tun würde, denn das war, als musste ich über eine weite Fläche brackigen braunen Wassers blicken.
    Nachdem ich mich zu dieser Entscheidung durchgerungen hatte, fühlte ich mich besser. Noch diese Adresse, dann würde ich es sein lassen. Wenn es nur nicht so schrecklich kalt wäre. Meine Zehen schmerzten vor Kälte, meine Finger wurden taub, und die Haut in meinem Gesicht spannte und brannte, als würde der Wind sie mit groben Sandkörnern bombardieren. Der Gehsteig glitzerte vor Frost. Die parkenden Autos überzogen sich langsam mit einer dünnen Eisschicht. Ich ging schneller. Mein Atem bildete in der Kälte weiße Wolken, und das Luftholen tat mir in der Nase weh. Ich würde die Nacht auf Sadies Couch verbringen und mich am Morgen auf Wohnungssuche begeben. Ich musste mir auch einen neuen Job suchen, wieder ganz von vorn beginnen. Zum einen brauchte ich das Geld, aber noch dringender brauchte ich das Gefühl, wieder ein normales Leben zu führen. Als Erstes würde ich mir morgen einen Wecker kaufen und ihn auf halb acht stellen. Dann musste ich bei Ben meine Sachen abholen und Cross dazu bringen, mich zu Jos Wohnung zu eskortieren, damit ich dort meine restlichen Habseligkeiten holen konnte. Mein Leben war über ganz London verteilt. Ich musste es wieder einsammeln.
    Ich bog nach links in eine schmalere, dunklere Straße ein. Der Himmel war klar, über mir glitzerten Sterne und eine dünne, kalte Mondsichel. In den Häusern, die ich passierte, waren die Vorhänge zugezogen, und das Licht, das das Leben anderer Menschen erhellte, fiel nur gedämpft zu mir heraus. Ich hatte alles in meiner Macht Stehende getan, dachte ich. Ich hatte nach Jo und nach mir selbst gesucht, doch keine von uns beiden gefunden. Wir waren verloren, und ich glaubte nicht mehr daran, dass Cross uns je finden würde, aber vielleicht würde er ihn finden, und ich wäre wieder sicher.
    Eigentlich glaubte ich an gar nichts mehr. Die Vorstellung, nicht in Gefahr zu sein, erschien mir inzwischen genauso abwegig wie der Gedanke, dass mich jemand entführt und an einem dunklen Ort gefangen gehalten hatte, von wo mir schließlich die Flucht gelungen war. Die erinnerte und die verlorene Zeit schienen in meinem Kopf miteinander zu verschmelzen. Der Ben, den ich gekannt und vergessen hatte, schien sich von dem Ben, den ich neu entdeckt und dann wieder verloren hatte, nicht mehr trennen zu lassen. Die Jo, die ich kennen gelernt und mit der ich gelacht hatte, war verschwunden, sogar aus meinem Gedächtnis. Nichts davon hatte Substanz, alles war gleichermaßen Schall und Rauch. Dass ich es schaffte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, lag nur daran, dass ich mir selbst den Befehl dazu erteilt hatte.
    Mit Fingern, die sich wie gefrorene Klauen anfühlten, zog ich die

Weitere Kostenlose Bücher