In seiner Hand
Lachen.
»Versuchst du es immer noch auf diese Tour? Dafür ist es nun zu spät. Aber wenn du dieses Spiel unbedingt spielen willst, meinetwegen. Ja, du hast dich gewehrt. Ich musste dich ziemlich hart anfassen. Du hast dich heftiger gewehrt als alle anderen. Ich musste dir ein paar verpassen, dich ruhig stellen.«
»Gut.«
»Was?«
»Nichts.«
Knie hoch, Abbie. Du darfst nicht schlappmachen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Du musst zehn schaffen. Versuch es.
Streng dich an. Sechs, sieben, acht, neun. Einmal noch.
Zehn. Eine schreckliche Übelkeit stieg in mir hoch. Du darfst nicht aufgeben. Atme, ein und aus. Nicht aufgeben.
Also gut. Mein letzter Brief. Er ist an niemanden gerichtet. Nun ja, vielleicht an jemanden, der gar nicht existiert, den ich vielleicht in der Zukunft kennen gelernt hätte. Wie bei einem Tagebuch. Als Teenager führte ich eine Weile Tagebuch, aber meine Einträge hatten stets einen peinlichen Tenor, als stammten sie von einer Fremden, noch dazu einer, die ich nicht besonders mochte.
Ich wusste nicht, für oder an wen ich das alles schrieb.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, mein Brief. Wann habe ich das letzte Mal einen Brief geschrieben? Ich kann mich nicht erinnern. Ich schreibe viele E-Mails und ab und zu mal eine Postkarte, aber ein richtiger Brief, das war schon eine Ewigkeit her. Ich hatte eine Freundin namens Sheila, die nach dem Studium für ein Jahr als freiwillige Helferin nach Kenia ging und dort in einem kleinen Dorf in einer Blockhütte lebte. Ich schrieb ihr ab und zu, wusste aber nie mit Sicherheit, ob meine Briefe überhaupt ankamen. Nach ihrer Rückkehr stellte sich heraus, dass sie tatsächlich nur zwei erhalten hatte. Ein seltsames Gefühl, jemandem zu schreiben und nicht zu wissen, ob der Adressat das Geschriebene jemals lesen wird. Es ist so ähnlich, als würde man jemandem etwas erzählen – etwas, das einem wirklich am Herzen liegt –, sich umdrehen und feststellen, dass der andere den Raum verlassen hat.
Mein Mund fühlte sich widerlich an, voller Blasen. Mein Gaumen war weich und geschwollen. Wenn ich schluckte, war es, als würde ich Gift schlucken, den Geschmack des Lumpens und meiner eigenen Fäulnis, also versuchte ich, möglichst nicht zu schlucken, aber das war sehr schwer.
Ich saß in der Dunkelheit und schob die Hände ineinander. Meine Nägel waren länger geworden. Es heißt ja immer, dass die Nägel auch nach dem Tod noch weiterwachsen, aber ich habe gehört, dass das nicht stimmt. Stattdessen schrumpft bloß die Haut, irgendetwas in der Art. Wer hat mir davon erzählt? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich hatte vieles vergessen. Es war, als würden die Dinge von mir abfallen, eines nach dem anderen – Dinge, die mich an das Leben banden.
Der Brief. Wem sollte ich meine Habseligkeiten hinterlassen? Besaß ich überhaupt etwas, das ich vererben konnte? Ich hatte weder ein Haus noch eine Wohnung.
Mein Auto war schon ziemlich verrostet. Terry verzog immer das Gesicht, wenn er es sah, aber auf eine amüsierte Weise, als wollte er sagen: »Frauen!« Einige Klamotten, nicht allzu viele. Die konnte Sadie haben, allerdings war sie seit der Schwangerschaft dicker als ich.
Ein paar Bücher. Ein bisschen Schmuck, nichts Teures.
Nicht viel. Es würde bloß zwei Stunden dauern, das alles zu sortieren.
Ich fragte mich, wie das Wetter draußen wohl gerade war. Vielleicht schien die Sonne. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das Sonnenlicht auf Straßen und Häuser fiel, doch es gelang mir nicht. Diese Bilder waren aus meinem Kopf verschwunden – der Schmetterling, der See, der Fluss, der Baum. Ich versuchte sie wieder heraufzubeschwören, aber sie lösten sich sofort auf.
Vielleicht war es draußen neblig, so dass man nur Schemen erkennen konnte. Ich wusste, dass es noch nicht Nacht war. Abends legte er mir immer eine Schlinge um den Hals und ließ mich für fünf oder sechs Stunden allein.
Ich bildete mir ein, ein Geräusch zu hören. Was war das?
Kam er auf mich zugeschlichen? War es jetzt so weit?
Ich hielt den Atem an, mein Herz raste und das Blut in meinem Kopf toste so laut, dass ich einen Moment lang nur das Rauschen in meinem eigenen Körper hörte.
Konnte man vor Angst sterben? Nein, da war niemand. Ich war noch immer allein auf meinem Mauervorsprung. Es war noch nicht so weit. Doch ich spürte, dass der Moment bald kommen würde. Er beobachtete mich. Er wusste, dass ich im Begriff war, mich aufzulösen, Stück für Stück.
Genau das
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