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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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wollte er. Ich wusste, dass er das wollte. Er wollte, dass ich aufhörte, ich selbst zu sein. Dann konnte er mich töten.
    Blind sah ich mich selbst in der Dunkelheit sitzen. Wie kann das Gehirn wissen, dass das Gehirn nachlässt, wie kann der Geist seine eigene Auflösung spüren? Ist das so, wenn man verrückt wird? Gibt es eine Zeitspanne, in der man weiß, dass man verrückt wird? Wann gibt man auf und lässt sich mit einer schauerlichen Art von Erleichterung in den Abgrund fallen? Ich stellte mir ein Paar Hände vor, Hände, die sich an einen Felsvorsprung klammern, beharrlich festhalten, bis sich irgendwann die Finger ganz langsam entspannen und lösen. Man fällt durch den freien Raum, und nichts kann einen aufhalten.

    Der Brief. Lieber wer auch immer, hilf mir, hilf mir, hilf mir, ich kann nicht mehr. Bitte. O lieber Gott, bitte!
    Meine Augen brannten. Mein Hals schmerzte, noch mehr als sonst. Als würden raue, kleine Steinchen darin feststecken. Oder Glassplitter. Vielleicht hatte ich mich erkältet. Dann würde ich immer weniger Luft bekommen, meine Nase irgendwann völlig verstopfen.

    »Trink.«
    Ich trank. Diesmal nur ein paar Schluck.
    »Iss.«
    Vier Löffel Brei. Ich konnte kaum schlucken.
    »Zeit für den Kübel.«
    Ich wurde hinuntergehoben, wieder hinaufgehoben. Ich fühlte mich wie eine wertlose Plastikpuppe, Einen kurzen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, mich in seinen Armen aufzubäumen und nach ihm zu treten, aber ich wusste, dass er die Kraft besaß, das Leben aus mir herauszudrücken. Ich spürte seine Hände an meinem Brustkorb. Er konnte mit Leichtigkeit meine Knochen brechen.
    »Zeit für die Schlinge.«
    »Scheißkerl!« sagte ich.
    »Was?«

    »Du. Abschaum. Scheißkerl.«
    Er schlug mir auf den Mund. Ich schmeckte Blut, süß und metallisch.
    »Abschaum«, wiederholte ich.
    Er stopfte mir den Knebel in den Mund.

    Fünf Stunden vielleicht und ein paar Minuten. Wie lange war er fortgeblieben, als ich das letzte Mal gezählt hatte?
    Bald würde er zurückkommen. Vielleicht würde er ein Stück Papier und einen Stift bei sich haben. Draußen musste es inzwischen Nacht sein. Wahrscheinlich war es schon seit Stunden dunkel. Vielleicht wurde der Himmel durch den Mond erleuchtet oder war mit Sternen übersät, Ich stellte mir unzählige Lichtpünktchen am schwarzen Firmament vor.
    Hier war ich, ganz allein unter meiner Kapuze, in meinem Kopf. Hier war ich, und alles andere erschien mir nicht länger real. Anfangs hatte ich versucht, nicht an das Leben jenseits dieses Raums zu denken, an das normale Leben, wie es gewesen war. Ich hatte das Gefühl gehabt, mich mit diesen Gedanken selbst zu verhöhnen und in den Wahnsinn zu treiben. Nun, da ich mich daran erinnern wollte, konnte ich es nicht mehr, zumindest nicht vollständig. Es war, als wäre die Sonne hinter schwarzen Gewitterwolken verschwunden und die Nacht nicht mehr fern. Sie war tatsächlich nicht mehr fern.
    Ich versuchte mich gedanklich in meine Wohnung zu versetzen, aber es ging nicht. Ebensowenig gelang es mir, mich im Büro bei der Arbeit zu sehen. Meine Erinnerungen lagen bereits größtenteils im Dunkeln.
    Folgendes aber wusste ich noch: Ich sah mich in einem See in Schottland schwimmen, mir war entfallen, wann, vor Jahren, und das Wasser war so dunkel und moorig, dass man nicht hindurchsehen konnte. Nicht einmal meine Hände konnte ich richtig sehen, wenn ich sie vor mir ausstreckte. Wenn ich kraulte, sah ich silberne Luftblasen in dem schwarzen Wasser. Prickelnde Bläschen silbriger Luft.
    Warum konnte ich mich daran erinnern, während andere Erinnerungen in der Dunkelheit versanken? Die Lichter gingen aus, eines nach dem anderen. Bald würde nichts mehr übrig sein. Dann hatte er gewonnen.
    Plötzlich wusste ich, was ich tun würde. Ich würde keinen Brief schreiben. Ich würde nicht warten, bis er mit seinem Stück Papier hereinkam. Es gab ein letztes Restchen Macht, das mir geblieben war. Die Macht, nicht abzuwarten, bis er mich umbrachte. Es war nicht viel, aber alles, was ich hatte. Keine Erinnerung, keine Hoffnung, nur das. Eigentlich war es ganz einfach. Wenn ich weiter hier sitzen blieb, würde er mich früher oder später töten –
    vermutlich eher früher als später, morgen oder übermorgen, ich spürte, dass der Zeitpunkt nahe war. Ich war ziemlich sicher, dass er die anderen Frauen tatsächlich umgebracht hatte und dasselbe auch mit mir vorhatte. Es würde mir nicht gelingen, ihn zu überlisten. Ich würde

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