Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
ineinander. Welche gehörten zur rechten Hand, welche zur linken?
    Ich versuchte es wieder mit dem Einmaleins, kam aber nicht weit. Wie war das möglich? Sogar kleine Kinder können das Einmaleins, singen es in der Schule im Chor.
    Ich konnte ihren Singsang in meinem Kopf hören, aber die Worte und Zahlen ergaben keinen Sinn.
    Was wusste ich eigentlich noch? Ich wusste, dass ich Abbie hieß und fünfundzwanzig Jahre alt war. Ich wusste, dass draußen Winter war. Ich wusste auch noch andere Dinge. Gelb und Blau ergibt Grün – zum Beispiel, wenn das blaue Meer im Sommer über den gelben Sand wogt.
    Sand besteht aus zermahlenen Muschelschalen. Aus geschmolzenem Sand entsteht Glas. Gläser für klares Wasser mit klirrenden Eiswürfeln. Aus Bäumen macht man Papier. Papier, Schere, Stein. Eine Oktave besteht aus acht Noten. Sechzig Sekunden ergeben eine Minute, sechzig Minuten eine Stunde, vierundzwanzig Stunden einen Tag, sieben Tage eine Woche, zweiundfünfzig Wochen ein Jahr. Die Monate mit dreißig Tagen heißen April, Juni, September und – weiter kam ich nicht.

    Ich durfte nicht schlafen. Trotzdem schlief ich ein, versank in unruhige Träume. Irgendwann wachte ich plötzlich mit einem Ruck auf, weil ich ihn neben mir spürte. Diesmal hatte er kein Licht angeschaltet. Und kein Wasser dabei.
    Zuerst hörte ich ihn nur atmen. Dann begann er zu sprechen. Gedämpftes Geflüster in der Dunkelheit.
    »Kelly. Kath. Fran. Gail. Lauren.«
    Ich saß reglos da.
    »Kelly. Kath. Fran. Gail. Lauren.«
    Es klang wie ein schleppender, monotoner Sprechgesang. Er wiederholte die fünf Namen immer wieder. Ich saß da und ließ den Kopf leicht nach vorn hängen, als würde ich noch schlafen. Mir liefen Tränen über die Wangen, was er nicht sehen konnte. Sie brannten auf meiner Haut. Ich stellte mir vor, dass sie wie Schnecken Spuren hinterließen. Silbrige Spuren.
    Schließlich stand er auf und ging, ich weinte noch eine Weile lautlos in der Dunkelheit.

    »Trink.«
    Ich trank.
    »Iss.«
    Vier weitere Löffel von dem süßen Brei.
    »Zeit für den Kübel.«
    Mein Name ist Abbie. Abigail Devereaux. Bitte, jemand muss mir helfen! Bitte! Niemand wird mir helfen.
    Gelber Schmetterling. Grünes Blatt. Bitte flieg nicht weg.

    Fast zärtlich legte er mir den Draht um den Hals. Zum dritten Mal, oder war es schon das vierte Mal?
    Ich spürte seine Finger an meinem Hals. Er vergewisserte sich, dass die Schlinge richtig saß.
    Bestimmt kreisten seine Gedanken ununterbrochen um mich, so, wie ich ständig über ihn nachdenken musste.
    Was empfand er für mich? Eine Art von Liebe? Oder war er wie ein Bauer mit einem Schwein, das vor der Schlachtung noch ein paar Tage im Stall gehalten und gefüttert werden musste? Ich stellte mir vor, wie er in ein, zwei Tagen hereinkommen und den Draht um meinen Hals zuziehen oder mir die Kehle durchschneiden würde, als wäre es eine lästige Pflicht.
    Nachdem er gegangen war, begann ich wieder zu zählen.
    Diesmal verwendete ich Ländernamen. Ich ging in Australien eine heiße, sonnenbeschienene Straße entlang und zählte die Häuser. Als ich in Belgien die Windungen einer mittelalterlichen Gasse hinaufstieg, regnete es. In China war es wieder heiß, in Dänemark unangenehm kalt.
    In Ecuador stürmisch.
    Als ich in Frankreich in einer langen, von Bäumen gesäumten Avenue gerade bei Nummer
    zweitausenddreihunderteinundfünzig angelangt war, hörte ich draußen eine Tür zufallen, dann Schritte. Er war ungefähr fünf Stunden und vierzig Minuten weg gewesen.
    Nicht so lang wie das Mal davor. Er machte sich meinetwegen Sorgen. Oder es war Zufall, wie lange er wegblieb. Was spielte das für eine Rolle?

    Wieder bekam ich ein paar Löffel von dem Brei, weniger als beim letzten Mal. Ich wurde nicht gemästet. Er gab mir gerade so viel, dass ich zwar immer dünner wurde, aber am Leben blieb. Zeit für den Kübel. Dann zurück auf den Mauervorsprung.
    »Du bist müde«, sagte er.
    »Was?«
    »Du redest nicht mehr so viel.«
    Ich beschloss, noch einmal den Versuch zu unternehmen, geistreich und charmant und stark zu sein.
    Es war, als müsste ich einen unglaublich schweren Sack einen steilen Berg hinaufzerren.
    »Fehlt Ihnen mein Gerede?« Meine Stimme schien von weit her zu kommen.
    »Du lässt nach.«
    »Nein, ich lasse nicht nach. Ich bin nur ein bisschen schläfrig. Müde. Sie wissen ja sicher, wie das ist. Sehr müde. Ich höre Echos in meinem Kopf.« Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich sagte,

Weitere Kostenlose Bücher