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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Am Ende läuft es auf dasselbe hinaus.«
    Am liebsten hätte ich losgeheult. Ich sehnte mich danach, stundenlang vor mich hinzuschluchzen und dabei von jemandem im Arm gehalten und getröstet zu werden.
    Gleichzeitig wusste ich, dass ich genau das auf keinen Fall tun durfte, denn dann wäre ich das zappelnde verwundete Tier, und er würde mich zu Tode trampeln.
    »Ist das wirklich wahr?«, fragte ich.
    »Was?«
    »Was Sie von diesen Frauen erzählen.«
    Wieder dieses hustenartige Lachen.
    »In ein paar Tagen wirst du bei ihnen sein. Dann kannst du sie selber fragen.«
    Er ging, aber die Situation schien sich verändert zu haben. Nach ein paar Minuten war er wieder da, als würde es ihn unwiderstehlich zu mir zurückziehen. Ihm war noch etwas eingefallen. Nachdem er mir den Knebel vorhin bereits in den Mund geschoben hatte, zog er ihn nun wieder heraus. Ich spürte seine Lippen ganz nah an meinem Ohr, roch feuchte Wolle und seinen süßlichen, nach Fleisch und Zwiebeln stinkenden Atem.

    »Eines Tages«, sagte er, »wahrscheinlich schon sehr bald und ohne vorherige Ankündigung, werde ich hier hereinkommen und dir ein Stück Papier und einen Stift in die Hand drücken. Dann kannst du einen Brief schreiben, einen Abschiedsbrief.
    Egal, an wen du schreibst, ich werde ihn abschicken. Du kannst schreiben, was du willst, es sei denn, es gefällt mir nicht. Ich will kein Gejammere. Es kann so eine Art Testament sein, wenn du das möchtest. Du kannst jemandem deinen Lieblingsteddy vermachen, was auch immer. Und dann, wenn du den Brief geschrieben hast, werde ich die Tat vollenden. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ja oder nein.«
    »Ja.«
    »Gut.«
    Er schob den Knebel in meinen Mund zurück. Dann verschwand er.

    Ich fragte mich, worum Gail wohl gebetet hatte. Liebte ich das Leben ebenso sehr wie diese anderen Frauen? Kelly, die um ihr verlorenes Leben weinte. Fran, sie sich ihm voller Verzweiflung anbot. Lauren, die kämpfte. Gail, die betete. Worum? Vielleicht nur um Frieden. Erlösung. Ich bezweifelte, dass ich eine so gute Christin war wie Gail.
    Wenn ich betete, würde es nicht um Frieden gehen. Ich würde um eine Waffe und freie Hände beten. Oder um ein Messer. Einen Stein. Einen Nagel. Irgendetwas, womit ich großen Schaden anrichten könnte.

    Ein letzter Brief. Keine letzte Mahlzeit, sondern ein letzter Brief. An wen würde ich ihn adressieren? Terry? Was würde ich schreiben? Wenn du eine Neue kennen lernst, dann behandle sie besser, als du mich behandelt hast?

    Lieber nicht. Meine Eltern? Ich stellte mir vor, einen noblen Brief mit weisen Gedanken über das Leben zu schreiben, der dafür sorgen würde, dass sich alle besser fühlten. Doch ich war weder weise noch großmütig noch tapfer, ich wünschte mir nur, dass das alles endlich aufhörte. Ich würde nicht in der Lage sein, diesen letzten Brief zu schreiben. Ich konnte einen Schrei in der Dunkelheit nicht in Worte fassen.
    An meinem ersten Tag in diesem Raum – das ist nun schon sehr lange her – quälte mich der Gedanke, dass vermutlich nur wenige hundert Meter von mir entfernt andere Menschen ihr ganz normales Leben führten.
    Menschen, die geschäftig irgendwohin eilten, während sie in Gedanken schon beim abendlichen Fernsehprogramm waren, in ihren Taschen nach Kleingeld wühlten oder überlegten, welchen Schokoriegel sie sich kaufen sollten.
    All das erschien mir nun so weit weg. Ich gehörte nicht mehr in diese Welt. Ich lebte in einer Höhle tief unter der Erde, in die nie Tageslicht drang.
    Während der ersten Zeit in diesem Raum quälte mich der Alptraum, lebendig begraben zu sein. Ich konnte mir damals nichts Beängstigenderes vorstellen. Ich war eingesperrt in einer dunklen Kiste und drückte gegen den Deckel der Kiste, aber er ließ sich nicht öffnen, weil er mit einer dicken, schweren Erdschicht bedeckt war, auf der ein Steinblock lag. Das schien mir das Beängstigendste zu sein, was meine Phantasie sich ausmalen konnte.
    Inzwischen machte mir der Gedanke keine große Angst mehr, denn ich befand mich bereits in diesem Grab. Mein Herz schlug, meine Lungen atmeten, aber das spielte kaum eine Rolle. Ich war tot. Ich lag in meinem Grab.

    »Habe ich mich gewehrt?«

    »Wovon redest du?«
    »Ich weiß nichts mehr. Ich möchte, dass Sie mir erzählen, wie es war. Bin ich freiwillig mit Ihnen gegangen? Oder mussten Sie mich zwingen? Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ich kann mich an nichts erinnern.«
    Das übliche

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