In seiner Hand
Sie erinnern sich an den Tag?«
»Ich weiß noch genau, dass Sie vor lauter Wut keine Sekunde still sitzen konnten.« Er lachte ein wenig schnarrend.
»Sie müssen gleich aufsperren«, sagte ich. »Es wird Zeit, dass ich gehe. Sie haben mir sehr geholfen, Ken.«
»Das freut mich.« Er rührte sich nicht von der Stelle, doch vielleicht lag das bloß daran, dass er ein großer, langsamer Mann war. Der Blick, mit dem er mich musterte, war sicher freundlich, aber ich war mir nicht sicher. Mich beschlich ein leiser Zweifel.
»Wären Sie so nett, die Tür für mich aufzuschließen?«
Er erhob sich von seiner Kiste, und wir gingen langsam durch den hell erleuchteten Laden. Auf meiner Stirn standen Schweißperlen, meine Hände zitterten.
»O nein! Was ist denn jetzt schon wieder? Ist etwas kaputt? Etwas zusammengebrochen? Schon wieder ein Idiot, der mit dem System nicht umgehen kann? Ich sage Ihnen jetzt mal was!« Er rammte mir seinen Zeigefinger in die Brust. »Ich werde nie wieder für Ihre Firma arbeiten!
Das habe ich Ihren Leuten auch schon gesagt. Nie wieder.
Selbst dann nicht, wenn Sie vor mir auf die Knie gehen.
Das lohnt sich nicht. Erst dieser Mann, der jedes Mal den Eindruck machte, als würde er gleich zu weinen anfangen, wenn er mich sah, und dann die blonde Frau mit der Rakete im Hintern. Sie müssen meine Ausdrucksweise entschuldigen. Am Ende stellte sich jedoch heraus, dass sie ganz akzeptabel war. Ich nehme an, Sie haben sie rausgeschmissen, nur weil sie einen Sinn für Gerechtigkeit besaß, nicht wahr?«
»Das war ich, Mr. Khan«, unterbrach ich ihn. »Ich habe Sie darauf hingewiesen, dass Sie unterbezahlt waren.«
»Nein, nein, nein, das lasse ich mir nicht einreden. Das war die andere, die mit den langen blonden Haaren. Abbie noch was, so hieß sie. Aber Sie habe ich noch nie gesehen.«
Erkannte er mich wirklich nicht? Ich nahm meine schwarze Wollmütze ab. Er verzog keine Miene. Da gab ich es auf und behauptete, jemand anders zu sein. Abbies Freundin.
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?« Ich bemühte mich um einen geschäftsmäßigen Ton.
»Am Freitag, dem elften Januar«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
»Nein, ich meine, wann tatsächlich?«
»Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.«
»Die Schwierigkeiten, in denen sie steckt, können nicht mehr schlimmer werden, egal, was Sie sagen, Mr. Khan.«
»Dann steckt sie also in Schwierigkeiten? Das hab ich gewusst. Ich hab’s ihr gesagt. Es schien sie überhaupt nicht zu kümmern.«
»Haben Sie sie danach noch einmal gesehen?«
Er zuckte die Achseln und warf mir einen zornigen Blick zu. Ich hätte ihn am liebsten umarmt.
»Ich bin Abbies Freundin«, erklärte ich noch einmal.
Bestimmt würde er mich jeden Moment erkennen. Dann würde er mich für eine Betrügerin halten oder für ein bösartiges Biest – oder einfach für eine Irre. »Ich bin auf ihrer Seite.«
»Das behaupten andere auch«, erwiderte er.
Was meinte er damit? Bestürzt starrte ich ihn an, während er fortfuhr: »Also gut. Ich habe sie am Montag darauf noch einmal gesehen. Anschließend bin ich schnurstracks zu meinen Anwälten gegangen. Sie hat mir einen großen Gefallen getan.«
»Am Montag, dem vierzehnten.«
»Ja. Wenn Sie sie sehen, richten Sie ihr meinen Dank aus.«
»Das werde ich tun. Und Mr. Khan …«
»Was?«
»Danke.« Einen kurzen Moment lang veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er begann mich genauer zu mustern, aber ich wandte mich ab, setzte meine dunkle Brille auf und stülpte mir die Mütze wieder über den Kopf. »Auf Wiedersehen.«
In einem warmen, schwach beleuchteten italienischen Café in Soho aß ich zu Mittag. Ich wurde an einen Tisch ganz hinten in der Ecke gelotst. Ich konnte jeden sehen, der hereinkam, fühlte mich selbst aber unsichtbar. In dem Café drängten sich die Touristen. Von meinem Platz aus konnte ich die Leute Spanisch, Französisch und Deutsch sprechen hören. Ein Schauder des Glücks durchlief meinen Körper. Ich zog meinen Mantel aus, nahm Mütze, Schal und Brille ab und bestellte Spaghetti mit Venusmuscheln und ein Glas Rotwein. Ich verbrachte fast eine Stunde dort. Während ich langsam meine Pasta aß, lauschte ich Bruchstücken von Gesprächen und atmete den Geruch von Zigaretten, Kaffee, Tomatensauce und Kräutern ein. Anschließend bestellte ich mir einen Cappuccino und ein Stück Zitronenkuchen. Meine Zehen tauten langsam auf, und meine Kopfschmerzen ließen nach. Ich kann es
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