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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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auf mich zu. Seine Stirn lag in Falten, vermutlich aus Ärger über meine Ungeduld. Er machte nicht sofort auf, sondern musterte mich zunächst durch die Glasscheibe.
    Dann breitete sich auf seinem vollen, roten Gesicht langsam der Ausdruck des Wiedererkennens aus. Er entriegelte die Tür. Obwohl mein Mund vor Angst ganz ausgetrocknet war, lächelte ich ihn an.
    »Abbie?«
    »Ich hab mir die Haare schneiden lassen, das ist alles.
    Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    Er trat einen Schritt zurück und starrte mich an, bis ich verlegen wurde.
    »Ich habe gehofft, dass wir uns treffen würden«, sagte er. Ich ließ seine Worte in mir nachklingen. War das die Stimme? »Ich habe oft an Sie gedacht.«
    »Ich dachte, Sie hätten um diese Zeit schon geöffnet«, erklärte ich und blickte mich nervös um. Alle Lampen, Lüster und Scheinwerfer brannten, doch außer uns schien niemand hier zu sein.
    »Ich mache erst in fünf bis zehn Minuten auf.«
    »Haben Sie kurz Zeit für mich?«
    Er ließ mich eintreten und sperrte die Tür wieder zu. Das Geräusch jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.
    Dagegen war ich machtlos.

    Ken ist nicht nur ein gewöhnlicher alter Elektriker, der Drähte hinter Fußleisten versteckt: er ist ein Maestro.
    Natürlich kennt er sich auch mit Drähten aus, doch seine wahre Leidenschaft ist das Licht – die Art, wie es fällt, seine Reichweite, der Kontrast zwischen Hell und Dunkel.
    In seinem Geschäft in Stockwell kann man die seltsamsten Glühbirnen kaufen, und er bringt es fertig, stundenlang über verschiedene Beleuchtungsarten zu sprechen, direkte oder indirekte Beleuchtung, Deckenlampen, aggressive Strahler oder weiches, diffuses Licht. Bei der Ausstattung der Avalanche-Büros hatte er wahre Lichtkunstwerke geschaffen. Jeder Schreibtisch und jedes einzelne Büro waren mit hellen Lampen ausgestattet, aber dazwischen lagen zahlreiche schwächer beleuchtete Bereiche.

    »Kontrast«, hatte er immer wieder gesagt. »Man braucht den Kontrast, das gibt einem Raum Gestalt und Tiefe, erweckt ihn erst richtig zum Leben. Die goldene Regel lautet, dass man das Licht niemals flach und grell gestalten darf. Wer könnte damit leben?« Die Avalanche-Direktoren waren begeistert gewesen.
    »Warum wollten Sie mich sehen, Ken?«
    »Eins nach dem anderen. Tee?«
    »Das wäre wunderbar.«
    Er kochte den Tee in seinem Büro, das im hinteren Teil des Geschäfts lag und mit Pappkartons vollgestopft war.
    Ich saß auf dem Stuhl, er auf einem Karton. Es war sehr kalt in dem Raum, so dass ich meinen Mantel anbehielt, obwohl er selbst in Hemdsärmeln herumlief.
    »Warum wollten Sie mich sehen?«
    »Einen Keks? Ingwerplätzchen?«
    »Nein, danke, für mich nichts.«
    »Um Ihnen zu danken.«
    »Wofür?«
    »Dafür, dass Sie mich davor bewahrt haben, drei Riesen in den Wind zu schießen.«

    »Habe ich das getan?«
    »Allerdings.«
    »Wie?«
    »Was?«
    »Tut mir Leid, Ken. Sie müssen ein bisschen Nachsicht mit mir haben. Bei uns in der Firma sind noch ein paar Fragen offen, die der Klärung bedürfen.«
    Damit schien er sich zufrieden zu geben. »Sie haben mich darauf hingewiesen, dass ich zu schlecht bezahlt würde und dagegen protestieren sollte.«
    »Und das haben Sie getan?«
    »O ja.«
    »Wann habe ich Sie darauf hingewiesen, Ken?«
    »Das muss gleich am Montagmorgen gewesen sein. So früh wie heute.«
    »An welchem Montag?«
    »Na ja, vor drei Wochen ungefähr.«
    »Am Montag, dem vierzehnten?«
    Nachdem er einen Moment überlegt hatte, nickte er.
    »Der muss es gewesen sein.«
    »Und wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen?«
    »Uns gesehen? Nein. Hätten wir uns sehen sollen?« Er schaute mich an, als würde ihm etwas dämmern. »Soll ich Ihrer Firma gegenüber behaupten, wir hätten uns gesehen?
    Damit Sie auf mehr Arbeitsstunden kommen, geht es Ihnen darum? Ich stehe in Ihrer Schuld, Sie brauchen mir also nur zu sagen, wann wir offiziell miteinander gearbeitet haben und wie lange.«
    »Nein, darum geht es mir nicht. Es gibt noch ein paar Ungereimtheiten, die ich klären möchte. Haben wir uns seitdem wirklich nicht mehr gesehen?«

    Er wirkte enttäuscht. »Nein. Obwohl ich auf eine Gelegenheit gewartet habe, mich bei Ihnen zu bedanken.«
    Er beugte sich vor und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Sie haben für mich den Kopf hingehalten, nicht wahr?«
    Seine Worte ließen mich schaudern. Ich musste mich erst sammeln, bevor ich weitersprechen konnte. »Dann sind Sie also sicher. Montag, der vierzehnte?

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