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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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wäre – wie sollte ich auch?
    Wir führen alle unser eigenes Leben, sehen uns in unregelmäßigen Abständen. Aber ich darf bei Jo nicht denselben Fehler machen. Weil ich jetzt nämlich weiß, wie das ist. Doch ich weiß nicht, was ich tun soll, um diesen Fehler nicht zu wiederholen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Auf jeden Fall rede ich wieder zu viel und habe außerdem dieses unangenehme Gefühl, dass ich in Tränen ausbrechen werde, sobald ich zu reden aufhöre.«
    Ich hielt inne, Ben beugte sich vor und legte eine Hand auf meinen Arm. Instinktiv riss ich den Arm zurück.
    »Tut mir Leid«, sagte er und schien es tatsächlich so zu meinen. »Bestimmt macht es Sie nervös, einen fremden Mann hier in Ihrer Wohnung zu haben. Ich hätte daran denken müssen.«
    »Ehrlich gesagt schon, ich meine, ich bin sicher, dass …
    Hören Sie, ich komme mir vor, als würde ich durch völlige Dunkelheit stolpern, wenn Sie verstehen, was ich meine –
    mit ausgestreckten Händen, verzweifelt bemüht, nicht in den Abgrund zu stürzen. Falls es überhaupt einen Abgrund gibt, den man hinunterstürzen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, am Rand meines Gesichtsfeldes einen Schimmer wahrzunehmen, doch sobald ich mich in die Richtung drehe, verschwindet er. Ich hoffe bloß, irgendwann wieder Licht zu sehen, aber bisher sieht es nicht danach aus. Ohne mein Gedächtnis fühle ich mich vollkommen orientierungslos, ich stolpere blind durch die Gegend und ecke ständig irgendwo an, und die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, dass ich nicht weiß, wo ich mich befinde – im Grunde weiß ich nicht einmal mehr, wer ich bin. Was ist von mir noch übrig? Vor allem, wenn die anderen nicht wissen, ob sie mir …« Ich brach abrupt ab. »Ich plappere schon wieder vor mich hin, nicht wahr?« Er gab mir keine Antwort und starrte mich auf eine Art an, die mich nervös machte. »Wie war ich davor?«
    »Wie Sie waren?« Er schien die Frage nicht zu verstehen.
    »Ja.«
    »Ihr Haar war länger.«
    »Das weiß ich, schließlich war ich diejenige, die zum Friseur gegangen ist und es sich hat abschneiden lassen.
    Aber was hatten Sie sonst für einen Eindruck von mir? In welchem Zustand befand ich mich?«
    »Ähm.« Einen Moment lang wirkte er unsicher und verlegen. »Auf mich haben Sie einen recht lebhaften Eindruck gemacht.«
    »Worüber haben wir gesprochen? Habe ich Ihnen etwas erzählt?«
    »Über die Arbeit«, antwortete er. »Berufliche Probleme.«
    »Sonst nichts?«
    »Sie haben gesagt, Sie hätten gerade ihren Freund verlassen.«
    »Das habe ich Ihnen erzählt?«
    »Sie haben mir erklärt, dass Sie vorübergehend keinen festen Wohnsitz hätten und nur über Ihr Handy zu erreichen seien, falls ich Sie geschäftlich brauchte.«
    »Habe ich sonst noch was erzählt? Vielleicht von neuen Bekanntschaften? Gab es möglicherweise einen neuen Mann in meinem Leben? Habe ich darüber etwas gesagt?«
    »Nicht direkt«, antwortete er. »Aber ich war schon der Meinung. Jedenfalls hatte ich den Eindruck.«
    »Unter Umständen war der Mann, den ich kennen gelernt hatte, nun ja, Sie wissen schon, er.«
    »Er?«
    »Der Mann, der mich entführt hat.«
    »Verstehe.« Er stand auf. »Was halten Sie davon, wenn wir jetzt auf einen Drink irgendwohin gehen – in einer Menschenmenge fühlen Sie sich bestimmt sicherer als allein mit mir.«
    »Eine gute Idee«, antwortete ich.
    »Dann lassen Sie uns gehen.« Er griff nach seinem Mantel.
    »Ein schöner Mantel.«
    Der Blick, mit dem er das Kleidungsstück betrachtete, wirkte fast ein wenig überrascht, als würde es sich um einen fremden Mantel handeln, der ihm ohne sein Wissen untergejubelt worden war.
    »Er ist neu.«
    »Ich mag diese langen weiten Mäntel.«
    »Ja, sie wirken fast wie lange Umhänge«, antwortete Ben.
    »Wie sie vor zweihundert Jahren getragen wurden.«
    Ich runzelte die Stirn. »Warum wird mir so komisch zu Mute, wenn ich Sie das sagen höre?«
    »Vielleicht, weil Sie derselben Meinung sind.«

    Der Pub war beruhigend voll und verraucht.
    »Ich lade Sie ein«, verkündete ich und kämpfte mich bis zur Bar durch.
    Kurze Zeit später saßen wir bereits mit unseren Biergläsern und einer Tüte Chips zwischen uns an einem Tisch.
    »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Sie sind also ein Freund von Jo, richtig?«
    »Richtig.«
    »Fährt sie oft weg?«
    »Das kommt ganz darauf an. Sie arbeitet meist parallel an mehreren Projekten für verschiedene Verlage –
    hauptsächlich Zeitschriftenverlage

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