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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Tür.
    »Abbie«, sagte er. »Machen Sie auf.«
    »Gehen Sie!«, schrie ich. »Oder ich rufe die Polizei.«
    »Ich möchte mit Ihnen reden.«
    Die Kette sah ziemlich stabil aus. Was konnte er mir durch einen zehn Zentimeter breiten Spalt antun?
    Vorsichtig öffnete ich die Tür. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, aber keine Krawatte.
    Darüber hatte er einen langen grauen Mantel an, der ihm bis über die Knie reichte.
    »Wie haben Sie mich gefunden?«
    »Was meinen Sie damit? Ich bin gekommen, um Jo zu sehen.«
    »Jo?«
    »Ich bin ein Freund von ihr.«
    »Sie ist nicht da.«
    »Wo ist sie?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Er wirkte immer verwirrter.
    »Wohnen Sie zur Zeit bei ihr?«
    »Sieht ganz so aus.«
    »Weshalb können Sie mir dann nicht sagen, wo sie ist?«
    Ich öffnete den Mund, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte.
    »Das ist eine komplizierte Geschichte. Wahrscheinlich würden Sie es mir sowieso nicht glauben. Haben Sie eine Verabredung mit Jo?«
    Er stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus und drehte gereizt den Kopf zur Seite, als könnte er nicht begreifen, dass er dieses Gespräch tatsächlich führte.
    »Sind Sie ihre Empfangsdame? Ich bin versucht zu sagen, dass Sie das nichts angeht, aber …« Er holte tief Luft. »Vor ein paar Tagen wollten Jo und ich uns auf einen Drink treffen, aber sie ist nicht aufgetaucht.
    Daraufhin habe ich ihr mehrere Nachrichten aufs Band gesprochen, auf die sie nicht reagiert hat.«
    »Genau«, sagte ich. »Das habe ich der Polizei auch gesagt.«

    »Was?«
    »Ich wollte Jo als vermisst melden, aber sie haben mir nicht geglaubt.«
    »Wieso denn das?«
    »Vielleicht ist sie auch nur in Urlaub gefahren«, fuhr ich etwas sprunghaft fort.
    »Hören Sie, Abbie, ich weiß nicht, welche Schandtaten Sie mir zutrauen, aber könnten Sie mich nicht hineinlassen?«
    »Können wir uns nicht auch hier unterhalten?«
    »Natürlich können wir das. Aber warum?«
    »Also gut«, antwortete ich. »Ich habe allerdings nicht viel Zeit. In ein paar Minuten wird ein Detective hier sein.«
    Das war ein weiterer meiner jämmerlichen Versuche, mich zu schützen.
    »Weswegen?«
    »Um meine Aussage aufzunehmen.«
    Ich löste die Kette und ließ ihn herein. Er schien sich in Jos Wohnung erstaunlich heimisch zu fühlen. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, warf er ihn über einen Stuhl. Ich zog das Handtuch von meinem Kopf und frottierte mir das Haar.
    »Sind Sie und Jo … Sie wissen schon«, sagte ich.
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Sie scheinen sich hier recht heimisch zu fühlen.«
    »Nicht so heimisch wie Sie.«
    »Ich brauche im Moment einfach einen Platz, wo ich unterschlüpfen kann.«
    Er sah mich an.
    »Geht es Ihnen wieder besser?«

    Innerlich stöhnte ich erschöpft auf.
    »Ich weiß, dass die Allzweckantwort auf die Frage:
    ›Geht’s wieder besser?‹ lautet: ›Ja, geht schon wieder‹.
    Aber in meinem Fall lautet die kurze Antwort: Nein, es geht mir nach wie vor nicht gut. Und die mittellange Antwort ist eine längere Geschichte, die Sie bestimmt nicht hören wollen.«
    Ben ging zur Kochnische und füllte den Wasserkessel.
    Dann nahm er zwei große Teetassen aus dem Schrank und stellte sie auf die Küchentheke.
    »Ich glaube, ich verdiene es, die lange Version zu hören«, meinte er.
    »Sie ist wirklich lang.«
    »Glauben Sie, Sie haben noch genug Zeit?«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Bevor Ihr Detective kommt.«
    Ich murmelte etwas Unverständliches vor mich hin.
    »Sind Sie krank?«, fragte er.
    Damit erinnerte er mich an etwas. Ich holte ein paar Tabletten aus dem Fläschchen in meiner Tasche und spülte sie mit einem Schluck Leitungswasser hinunter.
    »Ich habe immer noch diese Kopfschmerzanfälle«, erklärte ich. »Aber das ist nicht weiter beunruhigend.«
    »Wo liegt dann das Problem?«
    Ich ließ mich am Tisch nieder und stützte den Kopf in meine Hände. Manchmal, wenn ich die richtige Position für meinen Kopf fand, ließ das Pochen ein wenig nach. Ich hörte etwas Klappern. Ben goss den Tee auf. Er brachte die Tassen an den Tisch, jedoch ohne Platz zu nehmen, und lehnte sich gegen die Armlehne von Jos Sessel. Ich nahm einen Schluck Tee.

    »Ich habe mich zu einer Version von Coleridges altem Seemann entwickelt. Ich treibe die Leute in eine Ecke und erzähle ihnen meine Geschichte. Langsam frage ich mich, ob das überhaupt einen Sinn hat. Die Polizei hat mir nicht geglaubt. Je öfter ich sie erzähle, desto weniger glaube ich sie selbst.«
    Ben

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