In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
nun sind sie also tot.«
»Jipp«, machte Theo. »Aber die Schneekönigin da drüben ist immer noch höchst lebendig.«
»Mit der wollte ich eigentlich nicht gleich loslegen …«
»Wird dir nichts anderes übrig bleiben.« Theo beobachtete besorgt, wie Nathalie sich aus dem Kreis ihrer Bewunderer löste und auf sie zusteuerte. Neben ihm erklang ein zischender Pfeiflaut. Er erinnerte sich, dass Jonas unter Asthma litt.
»Hallo ihr zwei.« Nathalie knipste ihren Charme an. »Jonas, wie schön, dich wiederzusehen.« Sie strahlte ihn geradezu an und streckte die Hand aus. Jonas griff nach seinem Glas Cola. Stärkeres vertrug er nicht. Er nahm einen großen Schluck. Dann spuckte er ihn Nathalie direkt ins Gesicht. Braune Rinnsale bahnten sich den Weg durch ihr perfektes Make-up, ihr helles Leinenkleid war von nassen Flecken gesprenkelt, die sich immer weiter ins Gewebe fraßen.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir Miststück noch mal die Hand gebe«, sagte Jonas so laut, dass es jeder im Raum hörte. Dann ergriff er die Flucht.
Trotzdem, dachte Theo, Konfrontationstherapie – voller Erfolg.
Draußen auf der Straße lehnte sich Jonas an die Wand des Gebäudes und brach in schallendes Gelächter aus. Die Passanten warfen ihm scheele Blicke zu und machten einen weiten Bogen um ihn. Es war das erste Mal, nachdem er vom Dach gesprungen war, dass er sich aufrichtig freute, überlebt zu haben.
Drinnen brach nach einem Moment der Schockstarre erst Gekicher und dann Gelächter aus. Nathalie schnappte sich ihre Handtasche sowie ihren Leinenblazer und verließ hocherhobenen Hauptes das Klassentreffen.
Theo sah Lars am anderen Ende des Raumes mit Verena stehen. Verena Bach war ebenso wie Jonas eines von Nathalies bevorzugten Opfern gewesen. Er stellte fest, dass sie sich gemausert hatte. Sie war ein bisschen molliger als vor siebzehn Jahren, aber ihre geduckte Körperhaltung hatte sich gestrafft. Sie lachte und schien sogar mit Lars zu flirten. Früher hatte sie sich kaum getraut, jemandem in die Augen zu schauen. Verenas Unglück bestand damals darin, übermäßig zu schwitzen. In der Pubertät hatte es angefangen. Sie war schon mit großen Schweißflecken unter den Armen in der Schule erschienen. Alle wussten, dass sie immer mehrere identische T-Shirts im Rucksack herumgeschleppt hatte, die sie im Laufe des Tages wechselte. Viel hatte es nicht gebracht. Reinhold und Sebastian hatten immer laute Schnüffelgeräusche von sich gegeben, wenn sie in ihrer Nähe auftauchte oder im Unterricht befragt wurde. Oft hatten sie es geschafft, dass sie in Schweiß und Tränen aufgelöst aus dem Klassenzimmer gerannt war.
»Und?«, fragte Theo, als Verena sich einem anderen Klassenkameraden zugewandt hatte.
»Eher nicht.« Lars bestellte noch eine Apfelsaftschorle beim Barkeeper. Er trank niemals Alkohol. »Ich glaube nicht, dass sie noch besonders verbittert ist. Sie hat mir Fotos von ihren Zwillingen und ihrem Mann gezeigt. Das Schwitzen hält sie mit Botoxinjektionen in Schach.«
»Klingt nicht nach einer Killerin. Aber schau dir mal Sylvia genauer an.« Mit Unbehagen bemerkte Theo, dass sie ihn quer durch den Raum fixierte.
Lars salutierte dezent. »Wird gemacht, mon Capitaine.«
Gegen elf löste sich die Runde langsam auf. Zu Hause warteten auf die meisten von ihnen Ehepartner und kleine Kinder, die am frühen Morgen ihr Recht auf Aufmerksamkeit einfordern würden. Man verabschiedete sich mit dem in diesem Augenblick noch ernst gemeinten Versprechen, einander unbedingt bald wiedersehen zu wollen – Absichtsbekundungen, von denen jeder von ihnen schon jetzt wusste, dass sie sich bald im Alltagstrott auflösen würden.
»Na Alter, noch Lust auf einen kleinen Spaziergang?«, fragte Lars. »Komm schon, wie in alten Zeiten.«
Theo erinnerte sich mit Wehmut an die vielen Male, als sie gemeinsam nach einer durchtanzten Nacht an der Reeperbahn zu Fuß nach Hause gegangen waren. Der kürzeste Weg führte durch den alten Elbtunnel und dann durch den Freihafen. Mit ihren langen Beinen brauchten sie dafür nur etwa anderthalb Stunden. Theo zögerte.
»Dann lass uns wenigstens bis zu den Landungsbrücken gehen und da die S-Bahn nehmen.«
Er nickte. »Dann man los.«
Der Weg zu den Landungsbrücken war nicht weit. Von der erhöhten Position oberhalb der Hafenstraße bot sich ihnen ein grandioser Blick. Linkerhand lag die Rickmer Rickmers fest vertäut an der Mole. Seit den Achtzigerjahren diente der Dreimaster nun schon
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