In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
herablässt?«
»Klar. Für Politiker macht sich die Nähe zum einfachen Bürger immer gut.«
Lars sollte recht behalten, erkannte Theo in diesem Moment. Nathalie schritt in den Raum. In einem leichten Leinenkleid von schlichter und zweifellos teurer Eleganz sah sie wirklich klasse aus. Sie begrüßte Pia, die Organisatorin des Abends, die es inzwischen als Fotografin zu bescheidenem Erfolg gebracht hatte, mit Küsschen und winkte den Übrigen zu. Sogleich überboten Michael, genannt Mike, und Jens sich, ihr ein Getränk zu organisieren. Wie in alten Tagen, dachte Theo.
Er bestellte sich noch ein Bier und ließ den Blick über die wachsende Menge schweifen. Die meisten konnte er noch zuordnen – nur der Name der kleinen Schwarzhaarigen wollte ihm partout nicht einfallen. Die Mehrzahl hatte sich gut gehalten, fand er. Bis auf Klaus und noch den einen oder anderen der Männer, die feist und kahl geworden waren. Und dann war da noch Axel, der wirklich schlecht aussah. Fahle Haut, sprödes Haar. Irgendwas Gravierendes, dachte Theos Medizinerhirn. Irgendeine Krebserkrankung vielleicht.
Schließlich entdeckte er Sylvia, die an einer Wand im Dunkeln lehnte und das Geschehen beobachtete. Vielmehr fixierte sie Nathalie mit schmalen Augen. Er griff nach seiner Flasche und ging zu ihr hinüber. Sylvia stand relativ weit oben auf der Liste der Verdächtigen.
»Hi«, sagte er, »schön, dich wiederzusehen.«
Sylvia löste kurz den Blick von Nathalie, die inzwischen Mittelpunkt eines Grüppchens von Bewunderern war. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir früher dicke Freunde gewesen wären«, sagte sie kühl.
Das stimmte. Verlegen nahm Theo einen Schluck aus seiner Flasche. Sylvia Kuhn war eine von den Schlauen gewesen. Intelligenzmäßig hatte sie Nathalie locker das Wasser reichen können. Aber besonders hübsch war sie nie gewesen. Mit ihrem dünnen mausbraunen Haar und den etwas vorstehenden Schneidezähnen hatte sie Theo immer an ein Nagetier erinnert. Und sie war völlig humorfrei, erinnerte er sich. Das hatte Nathalies Gang weidlich ausgenutzt. Zumindest die Zähne hatte sie sich inzwischen offensichtlich richten lassen.
»Und, was treibst du jetzt so?«, fragte er unbeholfen.
»Das willst du nicht wirklich wissen.«
Langsam wurde er ärgerlich. »Warum sonst sollte ich fragen?«
Sie zuckte die Schultern. »Physik. Ich bin bei DESY.«
Theo hörte den Stolz, der in ihrer Stimme mitschwang. Tatsächlich war er beeindruckt. Das Forschungszentrum im Westen Hamburgs gehörte zu den weltweit führenden für Teilchenphysik. Insbesondere hatte man sich auf den Bau von Beschleunigern spezialisiert, soviel wusste er.
Sylvia hatte ihren Radarblick wieder auf Nathalie gerichtet. »Widerwärtig.« In dem leise gesprochenen Wort lag so viel Abscheu, dass Theo erschrak.
»Na dann«, sagte er, »gehe ich mal. War nett, mit dir zu plaudern.«
»Theo, du brauchst dir nicht so viel Mühe zu geben. Falsche Höflichkeit ist eine völlig überschätzte soziale Eigenart.«
Alles klar, dachte Theo und wandte sich ab. Er spürte, wie sie seinen Arm packte.
»Jetzt ist nicht die richtige Zeit und hier ist nicht der richtige Ort«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Perplex starrte er sie an. »Wofür?«
Sie lächelte ihm verschwörerisch zu. »Ich sehe, du hast verstanden«, sagte sie anerkennend und nahm ihre Hand weg. »Wir dürfen uns nichts anmerken lassen.«
Theo betrachtete sie. Er hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollte. Betrunken wirkte sie jedenfalls nicht, aber das konnte auch täuschen.
Er hob stumm seine Bierflasche zum Gruß und ging zum anderen Ende des Raums. Sylvias Blicke brannten sich in seinen Nacken. Er erkannte einen schmächtigen Mann, der deutlich älter aussah als die übrigen. Jonas Brenner. Er stand ganz oben auf ihrer Liste. Jonas hatte in der zehnten Klasse versucht, sich das Leben zu nehmen. Der sieht mir nicht so aus, als ob er sich von der Geschichte damals wirklich erholt hat, dachte Theo.
Er hatte den Anblick des schmächtigen Kerlchens nie vergessen, das auf dem Dach der Schule hockte. Seine dürren Beine ragten über den Abgrund. Selbst von unten gesehen, wirkte sein Gesicht verkniffen und weiß. Wie alle anderen hatte Theo gebannt nach oben gestarrt. Er hatte kaum zu atmen gewagt. Neben ihm johlten Reinhold und Sebastian. »Los, spring schon, du Feigling«, hatte Reinhold gerufen.
»Nie im Leben!«, brüllte Sebastian. »Das traut der sich nie!«
Ohne weiter darüber nachzudenken,
Weitere Kostenlose Bücher