In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
als Museumsschiff. Bei der dramatischen nächtlichen Beleuchtung konnte Theo sich gut vorstellen, wie er einst durch die Weltmeere gepflügt war. Zu ihren Füßen reckte sich der Turm der Landungsbrücken. Seine leuchtenden Zifferblätter zeigten ihm, dass es bald Mitternacht war. Unmittelbar daneben wölbte sich die grüne Kuppel des Elbtunnels – ein architektonisches Ensemble, das entfernt an eine Kirche denken ließ. Im Freihafen, auf der anderen Seite der breiten Wasserstraße, herrschte noch immer Betrieb. Liegezeiten im Hamburger Hafen waren teuer, sodass auch nachts gearbeitet wurde. Die Zeiten, in denen die Seeleute sich tagelang am Hafen verlustieren konnten, bis die Ladung gelöscht war, waren lange vorbei. Aus einem Auto, das unter ihnen mit geöffneten Fenstern die Hafenstraße entlangfuhr, stieg Musik zu ihnen empor. »Verdamp lang her« von BAP. In der Tat, dachte Theo.
Sie ließen sich auf einer Bank nieder. Lars zog eine Pfeife hervor, stopfte sie bedächtig und zündete sie an. Der süße Duft des Tabaks hüllte Theo ein. Wie immer erinnerte er ihn an seinen Großvater. So saßen sie eine Weile und genossen schweigend die Aussicht.
»Weißt du, was mich wirklich wurmt?«, sagte Theo schließlich.
»Nathalie«, mutmaßte Lars.
Theo nickte. »Das macht mich wirklich wahnsinnig, dass solche Leute es so weit bringen. Ich meine, die Frau hat doch keinen Funken Anstand, aber wenn die so weitermacht, ist sie wahrscheinlich irgendwann Bundeskanzlerin.«
Lars hauchte etwas Rauch in den Nachthimmel und sah ihm nach, bis er sich auflöste. »Glaub ich nicht. Heute hat sie jedenfalls schon einen kleinen Dämpfer verpasst bekommen.«
Theo lachte bei der Erinnerung an Jonas’ sprühende Aktion. »Und? Kannst du dir irgendeinen unserer ehemaligen Mitschüler als eiskalten Killer vorstellen?«
»Finde ich schwierig.« Er paffte ein paar Züge. »Eigentlich haben die meisten gewirkt, als hätten sie ihr Leben ganz gut im Griff. Und wer einigermaßen im Reinen mit sich ist, braucht vermutlich auch niemanden umzubringen.«
»Was ist mit Sylvia?«
»Sylvia. Die ist zugegebenermaßen ein sehr spezieller Fall. Aus der werde ich wirklich nicht schlau.«
Wenn Lars das schon sagt, will das was heißen, dachte Theo.
KAPITEL 11
»Lars fand Sylvia jedenfalls auch ein bisschen unheimlich«, sagte er am nächsten Morgen zu Hanna. Sie hatte ihn unbarmherzig um 8 Uhr aus dem Bett geklingelt.
Spätestens um neun musste sie aus dem Haus zu einer Pressekonferenz am Robert Koch-Institut, dem obersten Seuchenwärter der Nation. Es ging um die Risiken neuer Grippepandemien – ein Dauerbrennerthema.
»Das heißt, von euren fünf Verdächtigen konntet ihr immerhin drei unter die Lupe nehmen.«
»Genau.« Theo wankte, den Hörer ans Ohr gepresst, die Treppe hinunter und dann in Richtung Küchenzeile. Es war gestern spät geworden und nun schrie sein Körper nach Koffein.
»Und eine geeignete Kandidatin habt ihr also auch schon.«
»Auf mich hat sie einen hasszerfressenen Eindruck gemacht. Und sie ist sehr clever. Arbeitet bei DESY.«
»Und privat?«
»Nada. Lars konnte ihr etwas mehr entlocken als ich. Auf den war sie ein bisschen besser zu sprechen.«
Hanna lachte. Sie ahnte, dass das Theo in seiner Eitelkeit kränkte.
Theo klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und füllte den Kaffeefilter mit Espressopulver.
»Kein Mann, keine Kinder, keinen Geliebten.« Die Kaffeemaschine röchelte. Ungeduldig wartete Theo darauf, dass sich genug Druck aufbaute. »Sie scheint nur für ihre Arbeit zu existieren.«
Hanna dachte daran, dass diese Beschreibung auch sehr gut auf sie selbst zutreffen könnte. Zumindest phasenweise. »Na ja, das heißt noch lange nicht, dass sie eine Mörderin ist«, gab sie zu bedenken.
»Stimmt. Als Nächstes schauen wir mal, was aus den beiden geworden ist, die gestern nicht aufgetaucht sind.«
Die Pressekonferenz im Robert Koch-Institut, kurz RKI genannt, war enorm gut besucht. Hanna quetschte sich noch als eine der Letzten in den überfüllten Raum.
Am Ende gelang es ihr, die Pressesprecherin des RKI zu erwischen, die sie inzwischen sehr gut kannte. Sie wirkte gestresst – Hanna wusste, dass bei ihr täglich die Telefone heiß liefen. »Ich hätte da noch eine ganz andere Frage«, sagte sie. »Wenn ich mir Tollwutviren organisieren wollte, wo würde ich welche finden?«
Die Pressesprecherin warf ihr einen langen Blick zu. »Nirgends. Derart gefährliche Viren werden sicher unter
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