In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
hatte Theo Sebastian mit der Faust direkt ins Gesicht geboxt, sodass dieser zu Boden gegangen war. Das hätte ich schon viel früher machen sollen, dachte Theo heute. Aber es hatte nichts mehr geholfen. Hinter Jonas tauchte die Silhouette eines bärtigen Hünen auf. Die langen, schon leicht ausgedünnten Locken wehten im Wind. Der Sportlehrer hatte die Hände gehoben und redete beruhigend auf den Jungen an der Dachkante ein. Es schien Theo nicht so, als würde Jonas ihn überhaupt wahrnehmen. Der Junge lehnte sich fast unmerklich ein winziges Stück nach vorn. Und dann noch eines. Wie in Zeitlupe. Der Schwerpunkt kippte und Jonas stürzte mit ausgebreiteten Armen wie ein Turmspringer in Richtung Boden. Irrationalerweise hatte Theo gehofft, er würde einfach einen Segelflug hinlegen. Auf etwa der Hälfte der Fallhöhe fing der Stürzende an, verzweifelt mit Armen und Beinen zu rudern. Dann kam der Aufprall, ein dumpfes Geräusch, das Theo sein Leben lang nicht vergessen sollte.
Er schrak leicht zusammen, als die kleine Schwarzhaarige sich neben ihn auf den Barhocker schwang.
»Na, Theo, ganz allein an der Bar? Komm ich geb dir einen aus.«
Er schwenkte seine noch fast volle Bierflasche. »Danke, aber ich hab noch.«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn listig an. »Du hast keinen Schimmer, wer ich bin.«
Theo kapitulierte. »Darin war ich schon immer ganz schlecht. Im Gesichtermerken, meine ich.«
Sie pustete eine Haarsträhne aus der Stirn. »Im Grunde ein Kompliment. Ich hab mich seit damals ganz schön verändert. Haare ab, Brille weg, Zahnspange weg, Pickel weg.«
Theo dämmerte es. »Steffi …«
»Volltreffer.« Sie lachte. »Ist das nicht ein bisschen peinlich, wenn man als Arzt dauernd die Gesichter seiner Patienten vergisst? Ich meine, du wolltest doch Medizin studieren.«
»Hab ich auch.«
»Und, schon die Frau fürs Leben gefunden?«
»Ich bin nicht ganz sicher.« Er dachte an Nadeshda. Dann an Hanna. Dann wieder an Nadeshda. »Sie ist gestorben, bevor wir es herausfinden konnten.« Jetzt kommt’s, dachte er.
Steffi schlug ihre zierliche Hand vor den Mund. »Mensch, da bin ich wohl wieder mal ins Fettnäpfchen getreten.« Sie blickte zerknirscht. »Immer noch meine Spezialität, daran hat sich nichts geändert.«
Theo lachte schief. »Nimm’s nicht so tragisch. Ist nicht so leicht heutzutage, das mit dem Tod und mit dem Sterben. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
Sie nickte zerknirscht.
»Ich bin inzwischen nämlich Bestatter.«
»Nee, im Ernst?« Sie lachte und hielt sich wieder die Hand vor den Mund.
Dabei ist die Spange doch längst weg, dachte er.
»Ich geh mal für kleine Mädchen«, sagte sie und kletterte vom Barhocker, der für Menschen ihrer Größe nicht gemacht worden war. Theo ergriff die Chance und schlenderte zu Jonas hinüber.
»Na, Alter«, sagte er. »Lange nicht gesehen.« Was für ein Blödsinn man auf solchen Veranstaltungen von sich gibt, schoss es ihm durch den Kopf. Er wusste noch genau, wann und wo er Jonas zuletzt gesehen hatte: in dem Gebüsch liegend, das die Schulgebäude wie ein struppiger Miniatururwald umgab. Er war vollkommen überzeugt gewesen, dass Jonas tot war. Blut war aus seiner Nase gesickert, wie im Film. Doch die struppigen Pflanzen hatten den Sturz gedämpft und ihm das Leben gerettet. Anschließend war er nie mehr an die Schule zurückgekehrt.
Der Angesprochene zuckte zusammen. Nervös fingerte er an seiner Brille. »Theo, oder? Theo Matthies?« Dann flatterte sein Blick zurück zu Nathalie, die er wie gebannt angestarrt hatte. Eher nicht wie die Schlange das Kaninchen, dachte Theo, sondern wie das Kaninchen die Schlange.
»Dass die sich hertraut«, sagte Theo mit einer Kopfbewegung zu Nathalie.
»Viel erstaunlicher, dass ich mich hierhertraue.« Ein Funken von Humor blitzte hinter Jonas’ Brillengläsern auf und Theo dachte kurz: Den haben sie doch nicht vollkommen fertiggemacht.
»Wo sind ihre beiden Kumpane«, raunte Jonas, »du weißt schon …«
»Sebastian und Reinhold? Die hab ich kürzlich unter die Erde gebracht.«
»Wie?« Jonas sah alarmiert aus.
»Ich bin inzwischen Bestatter«, erklärte Theo, »wie mein Vater. Und die beiden sind mausetot.«
»Na so was.« Jonas wirkte geradezu geknickt. »Weißt du, meine Therapeutin hat mir empfohlen, mich heute gewissermaßen den Schreckgespenstern der Vergangenheit zu stellen.«
Theo nickte. Eine Art Konfrontationstherapie.
»Hat mich viel gekostet, hier aufzutauchen. Und
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