In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Operation. Heute war es eine vierzigjährige Frau gewesen. Sie für die morgige Begegnung mit ihren Angehörigen zurechtzumachen, war ihm nicht leichtgefallen. Die zweifache Mutter war an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Wie Nadeshda.
»Na, dann mal viel Spaß auf deinem lang ersehnten Klassentreffen.«
»Es wird bestimmt ganz nett.« Es war ein lahmer Versuch, sich selbst zu überzeugen.
»Aber bestimmt.« Hanna grinste breit.
KAPITEL 10
Der Ort für das Klassentreffen war gut gewählt. Einer der neuralgischen Punkte von Hamburg mit Nachtbussen in alle Richtungen der Stadt: die Reeperbahn, seit über hundert Jahren eine Amüsiermeile für Menschen jeden Alters. Theo erinnerte sich noch, wie über dem Operettenhaus, das sich zu Beginn der Straße am Spielbudenplatz befand, viele Jahre die gelben Katzenaugen des Musicals »Cats« in die Nacht geglüht hatten. Inzwischen wurde dort ein wechselndes buntes Programm geboten. Ein Stück weiter im Schmidt Theater oder noch ein paar hundert Meter weiter in Schmidts Tivoli stieß man auf gehobenes Publikum, das sich an Komödien und satirischen Late-Night-Shows erfreute. Der Mojoclub, in dem sich Theo früher die Nächte um die Ohren geschlagen und die neuesten Musiktrends gehört hatte, war allerdings inzwischen an den Pferdemarkt umgezogen. Im plüschigen Café Keese schräg gegenüber hatten schon seine Großeltern die an den Tischen installierten Telefone genutzt, um sich mit einem Unbekannten zu einem Tänzchen zusammenzufinden. Dazwischen lagen Sexshops und ein Supermarkt, der rund um die Uhr geöffnet war, wo sich Jugendliche mit Mixgetränken und Bier eindeckten.
Die Prostituierten, die vor dem McDonald’s an der Ecke zur Davidswache standen, versuchten Theo auf sich aufmerksam zu machen. Sie trugen hochhackige Overkneestiefel aus weißem Lackleder zu Hotpants aus demselben Material.
Das Klassentreffen sollte um 19 Uhr beginnen, bis um 22 Uhr würde die Lounge, die zum Tivoli-Theater gehörte, für sie exklusiv reserviert sein. Anschließend sollten auch andere Gäste hineindürfen – ein für beide Seiten guter Deal: So war die Bar in den besucherarmen frühen Abendstunden gut gefüllt und sie mussten weder einen Mietpreis noch einen Mindestkonsum garantieren, wie Pia, die den Abend organisiert hatte, in der Einladung geschrieben hatte.
Wider Erwarten schwand sein Unbehagen, als er die Treppe in den ersten Stock erklomm, und machte einer unverhohlenen Neugierde Platz. Den größten Teil seiner Schulkameraden hatte er nach dem Abitur aus den Augen verloren. Ein paar waren wegen ihres Studiums oder eines guten Jobangebots weggezogen und von denen, die in Hamburg geblieben waren, wohnten die wenigsten noch in Wilhelmsburg.
Oben begrüßte ihn ein bereits leicht angeschickertes Grüppchen von etwa einem Dutzend Männer und Frauen mit großem Hallo. »Theo Matthies«, quietschte eine kleine Schwarzhaarige, deren Namen ihm spontan nicht mehr einfallen wollte.
»Mensch Theo, alter Schwede, du hast dich besser gehalten als ich«, sagte Klaus, mit dem er früher Badminton gespielt und gegen den er häufig verloren hatte. Klaus lachte dröhnend.
Theo erkannte ihn sogleich wieder, obwohl er sein Gewicht verdoppelt, dafür aber seinen Schopf halbiert hatte. Theo klopfte ihm auf die Schulter, lächelte und begann sich zu entspannen, als die nächsten Neuankömmlinge mit ebenso großem Hallo begrüßt wurden wie er. Schnell füllte sich der Raum. Theo sicherte sich einen strategisch günstigen Platz am Tresen.
Am Abend zuvor waren Lars und er noch die Liste mit den Eingeladenen durchgegangen und hatten überlegt, wer von den einstigen Mitschülern am meisten unter dem boshaften Trio zu leiden gehabt hatte. Diese Kandidaten wollten sie sich besonders vorknöpfen. Insgesamt hatten sie fünf Namen auf der Liste, drei Mädchen und zwei Jungen.
»Also, ich würde nicht auftauchen, wenn ich in der Schule so zu leiden gehabt hätte«, hatte Theo zu bedenken gegeben.
»Und die, die sich trotzdem blicken lassen, stehen vermutlich inzwischen so weit über den Dingen, dass sie es nicht nötig haben, jemanden zu ermorden.«
»Das heißt, wer nicht auftaucht, ist besonders verdächtig?«
»Nee, so nun auch wieder nicht. Wir halten einfach Augen und Ohren auf. Vielleicht sehen oder hören wir dann was.«
»Und wenn einer Nathalie mit Blicken durchbohrt, wissen wir, woran wir sind«, hatte Lars gescherzt.
»Nathalie? Meinst du, dass sie sich zu so einer Veranstaltung
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