In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
zu mir meistens ganz okay. Ich meine, mitunter hat er schon ein paar fiese Sprüche abgelassen, aber wenn man selbst benebelt ist, tut einem das nicht besonders weh.« Sie nahm noch einen Schluck Apfelsaft. »Außerdem fühlt man sich scheiße, wenn man alleine säuft. Wenn man sich gemeinsam betrinkt, dann … dann ist das irgendwie normaler. Dann schämt man sich nicht so vor sich selbst.«
»Und als du es geschafft hast, nüchtern zu bleiben, war’s vorbei mit Reinhold.«
»Klar. Du kommst nicht weg von der Flasche, wenn neben dir einer ein Bier nach dem andern zischt.«
»Schon klar«, sagte Theo.
Sie schwiegen.
»Du hast ihn wohl nicht gemocht?«, fragte Iris nach einer Weile.
»Nicht besonders. Ehrlich gesagt konnte ich ihn nicht ausstehen.«
»Schon gut. Netter Zug, dass du ihn trotzdem so stilvoll unter die Erde gebracht hast.« Sie grinste. »Als er gehört hat, dass du doch noch Bestatter geworden bist, hat er sich halb totgelacht. Du warst doch früher mal Arzt oder so was?«
»Chirurg.«
»Entschuldige, wenn ich so direkt frage: Wieso schmeißt man denn so einen Job hin und wird dann Totengräber?«
»Bestatter.«
»Dann eben Bestatter.«
»Ich hab meinen Glauben verloren – den an meinen Beruf, meine ich.«
Iris nickte nachdenklich.
»Meine Frau ist gestorben und unsere ungeborene Tochter gleich mit«, hörte Theo sich sagen. Normalerweise sprach er nicht über die Tragödie.
»O Mann.« Iris legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das muss echt scheiße sein, wenn einem die Frau wegstirbt und man ist Arzt.«
»Total scheiße.«
Schweigend tranken sie ihren Apfelsaft aus.
Iris rülpste diskret, fummelte dann einen Fünfer aus der Tasche ihrer Jeans, die lose um ihren ausgezehrten Leib schlabberte.
»Danke jedenfalls, dass du noch mitgekommen bist.«
»War mir eine Ehre.«
»Mir auch«, sagte Iris.
KAPITEL 5
Am nächsten Morgen war Theo schon früh aufgewacht. Er schlüpfte in seine Joggingklamotten. Dann schlug er den Weg zur Bundhausspitze ein. Sie war der südlichste Punkt der Elbinsel Wilhelmsburg und noch immer stand hier ein kleiner Leuchtturm, der einst den Elbschiffern den Weg gewiesen hatte. Inzwischen war er schon lange stillgelegt. Aber man konnte noch immer auf die Plattform rund um das Leuchtfeuer hinaufkraxeln, die sich vielleicht gerade mal fünf Meter über dem Boden befand. Theo stieg hinauf und genoss den Blick über das Schilf hinaus aufs Wasser der Elbe, über der noch letzte Morgennebel trieben. Schon erstaunlich, dachte er wie so oft. Hier war man weitab von allem und doch in fünfzehn Minuten am Hamburger Hauptbahnhof, sofern man rote Ampeln ignorierte. Nach wie vor fand Theo, dass Wilhelmsburg etwas ganz Besonderes war. Dabei hatte die Insel zwischen Norder- und Süderelbe den denkbar schlechtesten Ruf, früher als Arbeitersiedlung, heute als sozialer Brennpunkt mit hohem Migrantenanteil. Aber dann gab es eben auch solche Ecken wie diese hier, ländliches Idyll pur, nichts als reetgedeckte Häuser und ein paar Schafe, die mit ihren schmalen Hufen die Löcher einstampfen sollten, die die Wühlmäuse in den Deich gruben. Diese Insel war sein Zuhause, auch wenn der in den frühen Siebzigern errichtete Hochhausmoloch Kirchdorf-Süd die Landschaft verschandelte. Und auch die schnell hochgezogenen Bauten der Nachkriegsarchitektur waren wirklich keine ästhetische Bereicherung.
Wie immer, wenn Theo beim Leuchtturm war, musste er an Anna Florin denken, die man hier an einem eisigen Wintermorgen gefunden hatte. Ohne Anna hätte er Hanna niemals kennengelernt. Hanna. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. In drei Stunden würde er sie wiedersehen.
Er joggte zurück über den Deich und genoss die morgendliche Stille. Vor dem kleinen zur Elbe hin gelegenen Friedhofstor legte er noch einen letzten Sprint hin. Dann stand er vor dem Grab seiner Frau und seiner Tochter. Wie üblich machte er hier seine Dehnübungen und berichtete von seinen Plänen für den Tag. Heute jedoch beschlich ihn dabei ein beklommenes Gefühl. Nadeshda von Hanna zu erzählen, der ersten Frau, in die er sich seit ihrem Tod ernsthaft verliebt hatte, war ihm blödsinnigerweise unangenehm. Angenommen, die Toten waren tatsächlich noch auf die eine oder andere Weise präsent – was er manchmal nicht unwahrscheinlich fand. Wären sie dann über kleinliche menschliche Gefühle hinweg? Wenn er sich vorstellte, Nadeshda wäre noch am Leben und er müsste zuschauen, wie sie einen anderen küsste, würde
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