In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
ich ihm mal was auf die Rübe gegeben habe.«
»Der ist tot.«
»Was?« Hadice richtete sich abrupt auf und verzog vor Schmerz das Gesicht.
»Hab ihn heute fürs Krematorium fein gemacht.«
»Na so was.« Hadice schwieg. Sie erinnerte sich noch gut an ein Klassenfest, bei dem Reinhold sie vor der Toilette abgefangen hatte. Er hatte sie überrumpelt und mit der ganzen Fläche seines Körpers an die Wand gepresst. »Ich hab gehört, ihr Türkinnen seid in Wirklichkeit ganz heiße Luder«, hatte er ihr ins Ohr geraunt. Sein Atem hatte nach Cuba Libre gestunken. Hadice hatte ihm ihre Stirn auf die Nasenwurzel gerammt, dass das Blut nur so sprudelte. Fortan hatte sie ihre Ruhe gehabt. Fünfzehn Jahre alt war sie damals gewesen, Reinhold sechzehn. Sie bezweifelte, dass er sich später zu einem besseren Menschen gewandelt hatte. »Hat er sich totgesoffen?«
»Nein. Es war Tollwut.«
Hadice starrte Theo an. »Die gibt’s doch gar nicht mehr.«
»Offenbar doch.«
Theo und Hadice waren bis zur Oberstufe zusammen aufs Gymnasium gegangen, bis Hadices Familie ins feinere Harvestehude umzog. Sie hatten sich erst wieder getroffen, als Theo auf eigene Faust den mysteriösen Tod einer alten Dame untersucht hatte. Schon zu Schulzeiten hatte Theo die heutige Kriminalkommissarin bewundert, die sich nichts gefallen ließ, nicht mal von Reinhold und dieser schrecklichen Clique. Alle hatten Angst gehabt. Alle außer Hadice. Und sein bester Freund Lars vielleicht. Aber der war erst später zu ihnen gestoßen.
»Tollwut – das passt irgendwie, findest du nicht?« Hadice schaute ihn aufmerksam an.
»Wie meinst du das?«
»Na, die waren doch wie ein Rudel tollwütiger Hunde, Reinhold und die anderen.«
Nur knappe drei Kilometer Luftlinie von Hadices Krankenbett entfernt stand ein Schatten im Hintergarten eines Reihenhauses in der Peter-Beenk-Straße. Entspannt lehnte er an der Ziegelmauer der Garage, mit der er im Halbdunkel unter den Bäumen verschmolz. Hineinzugelangen war ein Kinderspiel gewesen. Er war einfach durch die offen stehende Garage geschlüpft. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und da es ein wolkenverhangener Tag war, hatte die Familie bereits das Licht eingeschaltet. Durch das große Panoramafenster konnte der Schatten sie betrachten wie auf einer Kinoleinwand: Vater, Mutter und zwei Kinder, gruppiert um einen großen Esstisch. Wurst, Käse, Gurken, Tomaten – alles bio, wusste der Schatten. Die Blumen auf dem Tisch stammten aus dem Garten. Auf den ersten Blick war es das perfekte Idyll. Die Frau war schlank, fast dünn, mit sorgfältig frisiertem Haar. Der Mann noch immer attraktiv, auch wenn er sich über die Jahre einen kleinen Bauch zugelegt hatte. Das Mädchen war elf, nahm Reitstunden und spielte Klavier. Anders als viele Gleichaltrige hatte sie mit ihren runden Wangen und den puppenblauen Augen noch etwas sehr Kindliches an sich. Der fünfjährige Junge kam mit seinem dunklen Schopf nach dem Vater. Er zappelte auf seinem Stuhl und ließ einen bedrohlich wirkenden Plastikroboter auf dem Tisch umherspazieren.
Der Ausbruch kam plötzlich: Der Vater sprang auf, langte über den Tisch und riss dem Jungen den Roboter aus der Hand. Sein Gesicht hatte sich von einer Sekunde auf die andere dunkelrot verfärbt. Er brüllte etwas. Mit einer weit ausholenden Bewegung ließ er das Spielzug an der Wand zerschellen. Plastikgliedmaßen flogen in alle Richtungen, der Kopf rollte über den Boden, bis er torkelnd zum Stillstand kam. Sekundenlang war die Familie erstarrt, dann verzerrte sich das Gesicht des Mädchens. Sie weinte lautlos, wusste der Schatten, um den Vater nicht noch weiter zu reizen. Mit einer Handbewegung wischte der Vater seinen Teller mit dem Schinkenbrot vom Tisch, stieß den Stuhl zurück und verließ türenknallend den Raum. Er schlug seine Familie nie, das wusste der Schatten. Das hatte er nicht nötig. Er jagte ihnen auch so unbändigen Schrecken ein. Erst nach einer Weile rührten sich die Mutter und die Kinder. Jetzt fing auch der Junge an zu weinen, lautstark offenbar. Hilflos legte die Mutter den Arm um die schmalen Schultern ihres Sohnes.
Der Schatten löste sich von der Wand und glitt hinaus auf die Straße. Er wusste, wohin der Mann jetzt gehen würde. Heute soll es also geschehen, dachte der Schatten.
KAPITEL 4
Drei Tage später sah Theo zu, wie die Überreste von Reinhold Lehmann in die Erde gesenkt wurden. Als Hartz-IV-Empfänger hatte er ein Begräbnis auf Staatskosten erhalten: eine
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