In stiller Wut: Kriminalroman (German Edition)
Sylvia angefertigt hatte. Er betrachtete das unübersehbare Zentrum des Netzwerkes genauer.
»Wiedersehen nach siebzehn Jahren«, stand da. Er nahm die Brille ab und kaute nachdenklich auf einem Bügel herum. In den vielen Stunden, die er im therapeutischen Gespräch mit Sylvia Kuhn verbracht hatte, hatte sie auch aus ihrer Schulzeit berichtet. Franke hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er brauchte seine Unterlagen nicht, um sich an Sylvias Erzählungen von kleinen Schikanen und großen Gemeinheiten zu erinnern. Er nahm nicht an, dass das Mobbing in der Schulzeit Sylvias Krankheit direkt hatte hervorrufen können. Schizophrenie war in hohem Maße genetisch bedingt. Aber Stress konnte zumindest ein Auslöser sein.
Die Einladung zum Abiturtreffen und die damit verbundenen Erinnerungen konnten also durchaus der Hebel für einen erneuten Schub gewesen sein. Insbesondere, wenn Sylvia zuvor bereits eigenmächtig ihre Medikamente abgesetzt hatte. Das ließ zumindest das von Wahn geprägte Gespräch, das er vorhin mit Sylvia geführt hatte, vermuten. Er blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr.
Er vertiefte sich noch einmal in die Einladung, die der Projektor an die Wand zeichnete. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus. Er drehte sich zu Henry um, der still mit verschränkten Armen an der Wand lehnte.
»Schauen Sie sich das einmal an«, sagte er und deutete auf den Mittelpunkt der Wand. »Sehen Sie diese Einladung?«
Henry nickte.
»Und hier sehen Sie das Datum. Ich meine nicht das der Veranstaltung. Ich meine das des Briefes.« Er presste seinen Zeigefinger auf die Mitte des Bildes.
Henry trat noch einen Schritt näher.
»Zehnter Juni«, las er vor.
»Und wann, haben Sie gesagt, ist das erste Opfer verschwunden?«
Henry blickte ihn an und zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Mehr als zwei Wochen vorher.«
»Wenn die Einladung also der Auslöser für Sylvias psychotischen Schub war, wie ich vermute …«
»… dann ist es unwahrscheinlich, dass sie etwas mit den Morden zu tun hat.« Henry blies verblüfft die Backen auf. »Warum zum Kuckuck hat sie aber diese irre Mindmap angelegt?«
»Schizophrene Menschen nehmen ihre Umwelt überdeutlich wahr. Alles scheint ihnen daher eine besondere Bedeutung zu haben. Das kann schnell ins Bedrohliche kippen. Darum glauben Psychotiker während eines Schubes auch häufig, sie würden verfolgt. Oder sie glauben an irgendwelche irrwitzigen Verschwörungstheorien.« Franke deutete aus dem Fenster. »Für Sie und mich ist das da unten nur ein Auto, das zufällig vorüberfährt. Für Sylvia Kuhn ist es vielleicht ein Überwachungsfahrzeug des BNDs. Oder es sitzen Außerirdische darin. Denkbar ist alles.«
»Sie meinen, diese Mindmap hat sie nur zusammengestellt, weil sie hinter all diesen Geschehnissen eine geheime Verbindung gewittert hat?«
»Ganz genau. Sylvia Kuhn glaubt an einen elementaren Code, der die Dinge und Ereignisse in der Welt miteinander verbindet. Und den versucht sie zu knacken.«
»Das eigentlich Erschreckende daran ist allerdings, dass sie offenbar mit einigen Verknüpfungen gar nicht verkehrt liegt«, sagte Henry.
Hanna ließ den Cursor der Maus zum rechten unteren Bildrand wandern, sodass die Uhrzeit auf dem Monitor eingeblendet wurde. 00:16 Uhr stand da. Sie saß vor dem Computer in Theos Arbeitszimmer. Hinter ihr hatten sich Lilly, May und Paul zu einem dreifach atmenden Knäuel ineinander verschlungen. Der Mops schnarchte.
Aus der Küche hörte sie das leise Gemurmel von Fatihs und Lars’ Unterhaltung. Die beiden schienen sich in den letzten Monaten richtig gut angefreundet zu haben. Hanna lächelte. Sie fand, dass der musizierende junge Türke und der künstlerische Entrümpler gut harmonierten: Beide waren Typen, die aus dem gängigen Raster fielen und ihren eigenen Weg mit großer Selbstverständlichkeit verfolgten. Für Fatih war es sicher gut, nach dem Tod seiner Freundin, der alten Anna, einen anderen Freigeist gefunden zu haben, der ihn auf seinem Weg bestärkte.
Ein kurzes, geisterhaftes Aufscheinen auf dem Bildschirm machte sie darauf aufmerksam, dass eine neue Mail für Theo eingegangen war. Vermutlich Spam, dachte sie im Hinblick auf die Uhrzeit. Trotzdem öffnete sie Theos Postfach.
Der Name des Absenders sagte ihr auf Anhieb nichts, doch das Kürzel der Domain war ihr vertraut: »bnitm.de« stand für das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin.
Neugierig überflog sie den Inhalt. Offenbar stammte das Schreiben von Theos
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