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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Regel, aber Chuck und Susan waren zusammen, weil jeder dem anderen etwas gab … was genau, wusste er nicht, aber irgendetwas.
    Was ihn und Kathy betraf – was gaben sie einander? Der Gedanke an sie glich dem Versuch, eine unscharfe Fotografie zu betrachten. Er konnte sich nicht darauf konzentrieren, und er bekam Kopfschmerzen davon. Bei allem, was sonst noch so los war, hatte er derzeit einfach nicht das nötige emotionale Rüstzeug, um das in Angriff zu nehmen. Wenn sie weiterziehen wollte, würde er sie gehen lassen müssen. Er hatte es nie angenehm gefunden, der Bittsteller, der Bedürftige zu sein. In einer Beziehung musste er zumindest auf Augenhöhe sein. Wenn sie gehen musste, dann war es eben so. Sie bedeutete ihm etwas, aber er bewahrte einen Teil seines Ichs davor, sich zu sehr von einem anderen Menschen abhängig machen zu lassen. Diese Lektion hatte er früh gelernt, und sie gehörte zu denen, die man lernen sollte.
    Er folgte der Biegung des Flusses bis zur Grand Street, wo er stadteinwärts abbog. Ab hier war alles Geländeauffüllung. Zu Melvilles Zeit hatte es noch kein East Village gegeben, damals war alles noch Sumpf. Die Straße, auf der er ging, hatte einmal zum Fluss gehört und würde es vermutlich irgendwann einmal wieder. Im Augenblick jedoch war er zufrieden, sich am Ausblick zu erfreuen.
    Er stapfte weiter durch die dunklen Straßen, beobachtete die Regentropfen, die im gelben Licht der Straßenlaternen glitzerten, und genoss das Gefühl, unter Tausenden anderen Seelen, von denen die meisten schliefen, allein zu sein. Der riesige Bienenstock hatte das Gesumme eingestellt, alle Arbeiterinnen hatten sich in ihre Zellen zurückgezogen, bis wieder Tag wurde. Lee war von Natur aus ein Nachtmensch, und dies waren die Stunden, die er am meisten liebte in dieser Stadt, die er zu seinem Zuhause gemacht hatte.
    Der Tod einer schönen Frau ist zweifellos das poetischste Thema der Welt … Unheimlich, dachte er, und doch war Poe da etwas auf der Spur. Wer könnte die eindringlichen Zeilen aus seinem bekanntesten Gedicht vergessen – Sprach der Rabe: Nimmermehr ?
    Poe hatte seine schöne Frau verloren, die noch sehr jung gewesen war. Er war wahrscheinlich manisch-depressiv gewesen – oder nur depressiv. Heute hieß das bipolar. Eine ernsthafte psychische Erkrankung, für deren Behandlung man in Poes Zeit schlecht gerüstet war. Aber wäre er ohne diese Krankheit Edgar Allan Poe gewesen?, dachte Lee. Und wenn man ihn vor die Wahl Gesundheit oder Bedeutung gestellt hätte – wie hätte er sich entschieden? Wenn man es sich genau überlegte, wofür hätte sich irgendeines dieser großartigen, leidenden Genies entschieden – van Gogh, Schumann, Poe?, fragte sich Lee und zog den Kragen gegen den Regen noch ein Stück weiter hoch. Er war stärker geworden, und seine kleinen, harten Tropfen prasselten ihm wie Kugeln ins Gesicht.
    All diese Größe und all dieses Leid. Lee glaubte natürlich nicht an den Mythos vom »gequälten Genie«: Bach zum Beispiel war ein gut situierter Bürger der Mittelschicht gewesen, der einen Haufen Kinder zeugte und großartige Musik produzierte. Doch wer wollte bezweifeln, dass ein Teil von van Goghs Kunst seiner Krankheit entsprang? Oder behaupten, Poes Dichtung sei nicht ein Produkt seines schwermütigen, gequälten Geistes?
    Ein dicker Tropfen traf ihn ins Auge, und er blieb stehen, um ihn wegzuwischen. Er stand im Lichtkreis einer Straßenlaterne und dachte über den Mann nach, den sie suchten. Gequält, ja – aber er hatte sich damit nicht arrangiert, indem er dichtete und schrieb, sondern indem er lernte, Gepeinigter und Peiniger zugleich zu werden. Und jetzt musste er, mehr als alles andere, aufgehalten werden.

KAPITEL 69
    Am nächsten Morgen betrat Elena Krieger das Besprechungszimmer, beladen mit drei großen Einkaufstüten eines Kaufhauses, die sie neben dem langen ovalen Tisch abstellte. Sergeant Quinlan war noch nicht da, außer ihr waren deshalb nur Lee und Butts im Raum.
    »Was ist denn das?«, erkundigte sich Butts und schnüffelte, als enthielten die Tüten durch die Luft übertragbare Krankheitserreger.
    Krieger verschränkte die Arme und legte den Kopf schief.
    »Was haben Sie denn vor, zu dem Ball anzuziehen?«
    Butts machte ein finsteres Gesicht. »Ich dachte, ich ziehe meine Glaspantoffeln an.«
    Sie verdrehte die Augen. »Sie können nicht als Sie selbst gehen. Der ganze Sinn einer verdeckten Ermittlung besteht darin, sich optisch anzupassen. Wir

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