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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Möwen und Fischverkäufern würden mit dem Gerumpel der Lastwagen wetteifern, die den morgendlichen Fang aus den Docks anlieferten. Es lag noch ein anderer Geruch in der Luft, der schwache, anhaltende Duft der Zerstörung. Die Brände am Ground Zero waren schon lange erloschen, aber der Geruch hielt sich hartnäckig, ein Andenken an jenen schrecklichen Tag. Seltsamerweise hatten die Anschläge dem Gemeinschaftsgefühl der Bewohner der Stadt nichts anhaben können, sondern sie eher noch enger zusammengeschweißt. Der Kameradschaftsgeist und die Freundlichkeit der New Yorker bestanden auch noch ein Jahr danach in der Erkenntnis, dass sie alle betroffen waren.
    Das dunkle Betonband der Brooklyn Bridge ragte über ihm auf, nur zwei Häuserblocks vor sich sah er winzig die Peck-Slip-Fähre. Selbst um diese Zeit hörte man das permanente Verkehrsrauschen auf dem FDR Drive. Er hielt an, atmete den salzigen Duft des Flusses ein und stellte sich vor, wie Ismael zu Beginn von Moby Dick hier gestanden hatte. Es war zu dunkel, um die über der Tür des Hauses 214 Front Street eingravierten Passagen aus dem Buch erkennen zu können, aber es gefiel ihm zu wissen, dass sie da waren.
    Nennt mich Ismael.
    Auch wenn Melvilles Hauptfigur ferne, weite Meere bereiste, fing doch alles hier an, dachte Lee; hier an diesem kleinen Flecken Land in einer Stadt, die selbst damals die größte der Welt gewesen sein musste. Er ging auf der South Street weiter nach Norden, den Fluss auf der einen, die Stadt auf der anderen Seite. Auf gewisse Weise, dachte er, ist alles eine Reise wie das Leben selbst. Nie fühlte er sich lebendiger als in Bewegung. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, wenn er tief in der Nacht durch diese Straßen spazierte, allein mit seinen Gedanken. Er sah, blieb selbst aber ungesehen.
    Ob sich ihr gesuchter Mörder auch gern nachts draußen herumtrieb? Stromerte er vielleicht in diesem Augenblick herum auf der Suche nach seinem nächsten Opfer? Wenn Lee ihm begegnete, würde er dann wissen, dass er der Mann war, den er suchte? Sein Unbekannter spielte ein gewagtes Spiel, in dem er sich wenig gefährdete Opfer griff und sie an Orten ablegte, an denen er riskierte, gesehen zu werden. Bestand darin ein Teil seines Vergnügens? Wie lange würde es noch dauern, bis er einen Fehler machte? Und wenn, wären sie dann für ihn bereit? Diese Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, als ein schwacher Nieselregen einsetzte und vom Fluss her Nebel herantrieb und die Umgebung in seinen grießigen Dunst tauchte. Er trottete durch die dicker werdende Nebelsuppe, über ihm bildeten sich rund um die Straßenlaternen verschwommene Lichthöfe.
    Er dachte über Vampire nach, was für eine starke Metapher sie waren, und grübelte, warum wir uns zugleich abgestoßen und angezogen von ihnen fühlten. Es musste etwas mit der Eigenart von Lust und Verlangen zu tun haben und ihrem subtilen Zusammenspiel mit Masochismus. Susan Morton war ein Gefühlsvampir, natürlich – aber er kam mehr und mehr zu der Annahme, dass dies einer der Gründe war, weshalb Chuck sie so berauschend fand. Konnte es sein, dass das Verlangen seines Freundes nach Bestrafung so tief saß, dass er es brauchte, ihr hörig zu sein? Vielleicht war seine »Machtlosigkeit« etwas, worauf er angewiesen war, ein Gegengewicht zu seinem Beruf, wo von ihm verlangt wurde, ständig das Ruder in der Hand zu haben. Vielleicht war seine Ehe mit Susan ein Ort, an dem er es abgeben und sich selbst lenken lassen konnte. Und ihr zwanghaftes Flirten befriedigte möglicherweise einen masochistischen Wunsch nach Bestrafung. Lee kannte ihn ebenfalls – und die unterschiedlichsten Wege, ihn sich zu erfüllen.
    Auf der anderen Seite des Wassers blinkten und schwankten die Lichter der Werften von Brooklyn. Er schlug den Kragen seiner Sommerjacke hoch, steckte die Hände in die Taschen und ging weiter. Ein einsames gelbes Taxi auf der Suche nach nächtlichen Fahrgästen kam ihm entgegen. Als er ihn sah, verlangsamte der Fahrer, doch Lee winkte ab. Er genoss sein Alleinsein. Diese Nacht hatte einen Zauber, den er nur ungern brechen wollte. Aber das war nicht Masochismus, dachte er. Er ging ganz einfach nur gern durch den Regen.
    Er glaubte nicht wirklich daran, dass Chuck Susan verlassen würde. Lees Ausbildung hatte ihn gelehrt, dass es keine Zufälle gab, keine zufälligen Entscheidungen. War man mit einem bestimmten Menschen zusammen, gab es dafür einen Grund. Natürlich bestätigten Ausnahmen die

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