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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Haut vor, blass und blutleer, die auf seine Knochen sackte, weil sein Fleisch verweste. Und die Aasfresser der Natur, die sich von seiner Leiche ernährten, wie er es schon bei so vielen Mordopfern gesehen hatte. Der Gedanke tröstete ihn. Sogar im Tod würde er Teil des Lebenskreislaufs werden, Nahrung für Würmer, Käfer und Schmeißfliegen. Daran war nichts Anstößiges.
    Doch er konnte den Tod seines Körpers ebenso wenig begreifen, wie er sich das Ende des eigenen Bewusstseins vorstellen konnte. Wenn er darüber nicht mehr verfügte, wäre er auch nicht mehr fähig, diesen Umstand wahrzunehmen. Wenn er seinen Körper nicht mehr bewohnte, was spielte es dann noch für eine Rolle, was mit dem Gewebe geschah, sobald dieses mysteriöse Ding namens Leben aus ihm gewichen war?
    Trotzdem versuchte er es weiter. Wenn er den Tod in seiner Phantasie vollständig leben könnte, würde er wissen, was Laura wusste, erleben, was sie erlebt hatte. Allerdings war das noch so eine erkenntnismäßige Sackgasse. Was, wenn sie nicht das Geringste erlebte? Er glaubte nicht an Gott oder den Teufel oder ein Leben nach dem Tod. Er wollte gerne an Engel und Vorsehung und Geister glauben, aber er konnte es nicht. Er wusste, dass seine Todesbesessenheit pervers war. Doch das Thema drehte und verzwirbelte sich in seinem Kopf wie ein Gehenkter am Galgenstrick, verstörend und außer Reichweite.
    Bei diesem speziellen Besuch wurden Lee und Butts von Sergeant Sean Quinlan vom 47. Revier begleitet. Er war ein erfahrener und ziemlich reizbarer Polizist, der seine Ansichten ebenso großzügig austeilte wie seine Spucke, deren er sich im Vorbeigehen in Rinnsteine, Kanalisationsöffnungen und an Bordsteinen entledigte.
    »Schlimme Nebenhöhlen«, bemerkte er, als er sie dabei ertappte, wie sie ihn anstarrten, als er einen ordentlichen Batzen auf die Wurzeln eines japanischen Ahorns spuckte. »Sekretüberproduktion, wissen Sie. Macht meine Frau wahnsinnig. Habe vergessen, meine Allergiemedikamente mitzunehmen.« Er zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und betupfte damit seine wässrig blauen Augen. Er war das, was Lees Mutter »grobknochig« nennen würde: ein großer, rothaariger Mann mit einem Nacken und mit Schultern, die seine Uniform zwei Nummern zu klein erscheinen ließen. Seine Stimme war tief und kehlig. »Allergien sind wirklich eine Qual«, meinte Butts, der Mühe hatte, mit Quinlans schlingerndem Schritttempo mitzuhalten, während sie die breite Allee entlanggingen. »Mein Sohn hat auch eine. Der muss so ein Injektionsgerät für den Notfall mit sich rumschleppen.«
    »Oh, na, so schlimm ist meine nicht«, sagte Quinlan, und seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Bei mir sind’s bloß Pollen und so Zeug. Nichts, was mich umbringen würde oder so – jedenfalls nicht in nächster Zukunft«, fügte er mürrisch hinzu und schielte kritisch auf ein klotziges Mausoleum, das auf der ausgedehnten Rasenfläche links von ihnen stand.
    Butts las laut aus einer Broschüre vor, die ihm ein Angestellter beim Betreten des Geländes in die Hand gedrückt hatte. »›Viele Grabmäler und Gedenkstätten der 1863 in Betrieb genommenen Anlage wurden von führenden Architekten ihrer Zeit errichtet. Zu den zahlreichen Prominenten, die in Woodlawn beerdigt sind, gehören Elizabeth Cady Stanton, Bat Masterson, Miles Davis und Duke Ellington.‹ Toll, wie wär’s?«, sagte er und stopfte die Broschüre in seine Tasche zurück.
    »Dieser Ort ist mir nicht geheuer«, gestand Sergeant Quinlan leise und führte sie durch einen Birkenhain. »Ich komm schon jahrelang aus irgendwelchen Gründen immer mal wieder her, aber er macht mich noch immer nervös.«
    »Echt?«, gab Butts zurück. »Ich mag das hier irgendwie. Es riecht gut.« Er sog den Duft von frisch gemähtem Gras, blühenden Stauden und Kiefernnadeln ein.
    »Wir gehen zu Fuß hin, damit die Presse nicht aufmerksam wird«, sagte Quinlan mit einem Blick auf Butts, der schnaufte, als sie durch eine Gruppe Birken und Hecken den Hügel hinaufstiegen. »Versuchen immer, uns so lange wie möglich unauffällig zu verhalten.«
    Direkt vor ihnen konnte Lee das gelbe Polizeiabsperrband flattern sehen. Kriminaltechniker in schwarzen Overalls mit der Aufschrift RECHTSMEDIZIN luden Gerätschaften aus einem Transporter. Eine Handvoll Uniformierter stand ins Gespräch vertieft dicht beisammen, ihre Köpfe berührten sich fast. Als sie Quinlan sahen, nickten sie ihrem Kollegen zu und traten zur Seite, damit die

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