In sueßer Ruh
Überraschungsangriff überwältigt worden war. So oder so, sie hatte keine Zeit gehabt, sich zu wehren – das bedeutete geringere Chancen, verwertbares Beweismaterial zu finden. Sie lag auf dem Rücken auf einer der kunststoffbezogenen Ruheliegen, die fürs Blutspenden benutzt wurden. Die Kanüle steckte noch in ihrem Arm. Trotz ihres dunklen Teints war sie ungewöhnlich bleich. Der Beutel mit ihrem Blut war jedoch weg.
»Sieht so aus, als hätte sie selbst eine Blutspende gemacht – aber keine freiwillige«, bemerkte Butts grimmig.
Aus dem Raum nebenan kam gedämpftes Weinen.
»Das ist die Lady, die sie gefunden hat«, erklärte Butts mit einem kurzen Nicken in ihre Richtung. »Henrietta Walmette. Sie ist eine der Ehrenamtlichen. Als sie heute früh hier ankam, stand die Tür offen, und sie hat Mrs Rosario so vorgefunden. Sie hat den Notruf verständigt, und zum Glück war der Detective, mit dem sie gesprochen hat, geistesgegenwärtig genug, um zu kapieren, dass eine Verbindung zu dem Kerl bestehen könnte, den wir suchen.«
Fraglicher Detective stand auf der anderen Seite des Raums, trank Kaffee und unterhielt sich mit einigen Uniformierten – allem Anschein nach Berufsneulinge.
»Kommen Sie«, sagte Butts, »ich stelle Sie vor.« Er führte Lee zu der Gruppe Polizisten. »Das hier ist mein Kollege Dr. Lee Campbell. Und das ist Detective Grumman, der Zuständige in diesem Fall.«
Grumman war ein drahtiger kleiner Mann mit einem Rattengesicht und schnellen, ruckartigen Bewegungen. Hätte er nicht gewusst, dass er Detective war, hätte Lee ihn für einen unbedeutenden Ganoven gehalten.
»Vielen Dank, dass Sie uns gerufen haben, bevor die Leiche weggebracht wurde«, sagte Lee und schüttelte ihm die Hand, die sich überraschenderweise weich, fast feminin anfühlte. Eigentlich sah Grumman nicht aus wie ein Metrosexueller, aber heutzutage konnte man nie wissen. Viele Typen, von denen man es nicht vermutet hätte, benutzten Handcreme, waxten sich die Brusthaare und zupften sich die Augenbrauen.
Grumman zuckte mit den Achseln. »Passte zur Vorgehensweise eures Kunden. Hab davon gelesen und dachte, ihr Jungs solltet hinzugezogen werden.« Seine Sprache war unverfälschtes Queens, mit gedehnten Vokalen.
»Dafür sind wir sehr dankbar«, sagte Butts.
»Und, hatte ich recht – war das Ihr Kunde?«, fragte Grumman. »Oder könnte es ein Trittbrettfahrer gewesen sein?«
»Nein, er war es«, erwiderte Lee. »Daran besteht kein Zweifel.«
»Möchten Sie mit der Lady reden, die die Leiche gefunden hat?«
»Klar«, sagte Butts.
Henrietta saß auf einem Stuhl neben einem eindrucksvollen Gerät, das Lee für eine Plasmazentrifuge oder etwas Ähnliches hielt. Sie umklammerte einen Styroporbecher mit Tee und wiegte sich mit glasigem Blick vor und zurück – obwohl es aufgrund des Make-ups, das sie sich pfundweise ins Gesicht geschmiert haben musste, schwierig war, ihren Gesichtsausdruck genau zu bestimmen. Tränen hatten ihr schwarze Rinnsale verlaufener Wimperntusche in die Wangen gefräst, sodass sie aussah wie ein alternder Clown aus einem Fellini-Film.
»Mrs Walmette?«, sagte Lee.
Die Frau wandte ihm ihr tränenverschmiertes Gesicht zu. »Sie können Henrietta zu mir sagen, Süßer«, entgegnete sie mit der leisen Andeutung eines Flirtversuchs. »Du lieber Gott, ich muss ja entsetzlich aussehen«, meinte sie betrübt und kramte in ihrer großen weißen Handtasche nach einem Spiegel. Nervös ließ sie einen Lippenstift und einen kleinen Taschenspiegel herausfallen. Einer der jungen Uniformierten bückte sich und hob die Sachen für sie auf.
Butts stieß Lee heimlich an. Henrietta Walmette war nicht die erste Frau, die der Anblick seines attraktiven Gesichts nervös werden ließ, und Butts neckte ihn gern damit.
»In Ordnung, äh, Henrietta. Ich bin Lee Campbell, und das ist Detective Leonard Butts. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir Ihnen einige Fragen stellen?«
»Ich habe dem anderen Detective schon alles gesagt, was ich weiß«, antwortete sie und wischte sich die verschmierte Wimperntusche aus dem Gesicht. »Ich möchte gerne behilflich sein, wirklich.«
»Das wissen wir, Ma’am«, erwiderte Butts. »Und wir schätzen das. Aber mein Partner hier ist – nun, eine andere Art von Polizist und könnte ganz besondere Fragen an Sie haben. Das heißt, falls das okay für Sie ist.«
Sie hatte ihre Reinigungsarbeiten beendet und sah Lee mit einem tapferen Lächeln an. »Natürlich – alles, was Sie
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