In sueßer Ruh
Fenster auf die braunen, vertrockneten Blätter auf der Veranda, als ein Windstoß sie aufwirbelte und in den Wald trieb. »Glaubst du, dass ihr sie jemals findet?«
Er wusste, was sie meinte. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde den Versuch nie aufgeben.«
»Warum tun Menschen so etwas, Lee? Welche Art von Eltern ziehen ein Kind groß, das sich in diese Richtung entwickelt?«
Jetzt befanden sie sich auf schwankendem Boden. Den er nicht zu betreten vorhatte.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Mom.«
Das stimmte sogar, dachte er. Es war rätselhaft, weshalb sich ein Mensch zu einem Soziopathen entwickelte und ein anderer, mit einer ebenso schrecklichen Kindheit, nicht. So viele Variablen, so viele Unbekannte – so viele Fragen. Er würde den Rest seines Lebens mit der Suche nach den Antworten zubringen.
KAPITEL 45
Joselin Rosario war ratlos. Im Vorratsschrank der Blutbank fehlten Bestände, und sie wusste nicht, warum. Obwohl hier unter der Woche einige Ehrenamtliche ein und aus gingen, hielt sie keinen von ihnen für einen Dieb – zumindest wollte sie sie nicht dafür halten. Sie mochte sie alle gern und arbeitete schon seit Jahren mit ihnen zusammen, überwiegend Damen von der Upper West Side, die mit ihren Männern auch ihren Lebensinhalt verloren hatten. Sie waren wohlhabend, bewohnten mietpreisgebundene Apartments – einige schon seit dem Zweiten Weltkrieg – und hatten sich nach Pfannkuchenwenden und Sockenzusammenlegen ehrenamtlicher Arbeit zugewandt. Und die Blutbank war immer froh über freiwillige Helfer, Gott segne sie.
Da war die kleine alte Mrs Levinson mit ihrer dubiosen Perücke und dem Zwergpudel Zsa Zsa, der sich immer still neben ihr zusammenrollte, wenn sein Frauchen Formulare an potenzielle Blutspender verteilte, Bleistifte spitzte oder Leuten half, die Toilette zu finden. Und Mrs Orinsky, deren Make-up bei jeder Temperatur stets makellos war. Sie hatte in ihrer Jugend bei den Rockettes getanzt und war stolz auf ihre noch immer beachtlichen »Haxen«, wie sie sie nannte, wie jemand aus einem Gangsterfilm der Dreißiger.
Und schließlich Mrs Henrietta Walmette. So stellte sie sich immer vor, mit Vor- und Nachnamen, als wäre sie Kandidatin in einem Fernsehquiz. Sie trug derartig auffallende Rougekleckse auf den Wangen, dass Joselin sich Gedanken über ihre Sehkraft machte. Das restliche Gesicht puderte sie sich totenbleich, sodass sie einer schlecht geschminkten Leiche glich. Aber sie war süß und freundlich und hatte einen absolut hinreißenden Südstaatenakzent. Sie ließ sich gern darüber aus, mit den Dukes of Durham verwandt zu sein – so nannte sie sie, mit ihrem Akzent klang es allerdings eher wie »Dooks of Durm«. Sie behauptete, Doris Dukes Großcousine zu sein, und wenn sie ihre Geschichten erzählte, lächelte Joselin nur und nickte. Sie war dazu erzogen worden, Respekt vor Älteren zu haben, und auch wenn die Damen ein bisschen lächerlich waren und genügend Make-up für eine komplette Clownstruppe trugen, waren sie doch liebenswürdig und wohlmeinend. Joselin empfand es jedenfalls als ihre Aufgabe, auf sie aufzupassen.
Heute war ihr jedoch unwohl. Schon seit sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie so ein mulmiges Gefühl im Bauch, und das bedeutete gewöhnlich, dass etwas Unangenehmes passieren würde. Sie hatte diese »Gabe« schon seit ihrer Kindheit – premoniciones lagen in der Familie. Ihre Großmutter hatte solche Vorahnungen gehabt, und Joselin sah genauso aus wie sie, sagten alle. Aus diesem Grund vermutete sie, deren Fähigkeit ebenfalls geerbt zu haben.
Nur um sicherzugehen, zählte sie die Kanülen im Vorratsschrank noch einmal. Es fehlte noch immer ein halbes Dutzend. Außerdem vermisste sie eine Packung Blutbeutel, ebenso eine Schachtel Verbandsmull und ein Thermometer. Warum sollte jemand ein Thermometer stehlen? Oder überhaupt irgendeines dieser Dinge? Konnte es sein, dass ein Medizinstudent, der zum Blutspenden hier war, sich ein paar Sachen gemopst hatte, um sie zum Üben mit nach Hause zu nehmen? Aber an wem üben und warum? Statt Antworten ergab sich aus jeder Frage eine neue Frage.
Sie saß am Empfangstresen im Eingangsbereich, schlürfte ihren café con leche und naschte dazu ein Stück dulce des tres leches , ihren Lieblingskuchen. Sie hatte eine Schwäche für dominikanische Spezialitäten, was ihren dicken Hintern und ihre Oberschenkel immerhin zur Hälfte plausibel machte – die andere Hälfte erklärte sich mit ihren Genen.
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