In sueßer Ruh
Gesichtspiercings. Sein Make-up war allerdings verschmiert, weil er übel zugerichtet war. Er starrte in einer Mischung aus Missmut und Traurigkeit in die Kamera, die Lee irgendwie bekannt vorkam. Diesen Blick hatte er schon einmal gesehen … und dann kam er darauf: im Gesicht seines eigenen Vaters auf den wenigen verbliebenen Fotos, die er von Duncan Campbell besaß.
»Was ist passiert?«, fragte Butts und blätterte die Bilder durch. Auf den anderen Aufnahmen konnte man deutlich sehen, dass der Junge ein schwarzes Seidencape mit rotem Futter trug.
Morton sah Lee an. »Dein kleiner François dachte, es wäre lustig, einen Vampir zusammenzuschlagen. Hat sich den Erstbesten gegriffen, der als Dracula verkleidet war, und nach Strich und Faden verdroschen. Er heißt Billy Tobowlski, ein ganz gewöhnlicher Grufti aus dem East Village auf dem Weg zu einer Party, als Nugent ihm in einer Gasse auflauert und über ihn herfällt.«
Krieger wirkte schockiert. »Wie bitte?«
Lee legte den Kopf in die Hände. »Chuck, er hat mir versprochen –«
»Erzähl das Billys Eltern«, schnauzte Morton ihn an. »Musste mit siebzehn Stichen genäht werden, einer für jedes Lebensjahr.«
»François?«, sagte Quinlan. »Ist das der Junge, dessen Schwester –«
»Ja«, erwiderte Butts. »Ich wusste ja, dass der Junge sauer ist, aber das ist ja eine höllische Art, sich auszuleben.«
Finster schaute Morton auf die Fotos. »Vielleicht können seine reichen Eltern ja die Krankenhausrechnung des Jungen übernehmen.«
»Wird die Familie Anzeige erstatten?«, fragte Lee.
»Weiß ich bisher nicht. Nugent sitzt im Untersuchungsgefängnis, ich bin mir aber sicher, dass seine Eltern in diesem Augenblick Kaution stellen.«
»Wo ist er?«
Chuck sah in seinen Notizen nach. »Sie haben ihn über Nacht ins Tombs gebracht.«
»Himmel«, murmelte Lee. Seine rechte Schläfe begann zu pochen, und auf dem linken Auge sah er nur verschwommen. Das war ein schlechtes Zeichen. Nichts zu essen und Xanax auf nüchternen Magen waren eine ganz schlechte Mischung – eine Migräne war im Anmarsch. Er überlegte, Chuck nach ein paar Ibuprofen zu fragen, er konnte sich allerdings auch nach der Besprechung noch welche besorgen.
Morton wandte sich an Krieger. »Sie haben gefragt, was passiert, wenn die Presse Einzelheiten in die Finger bekommt. Wie gesagt, hier ist Ihre Antwort.«
Sie runzelte die Stirn. »Aber hat François nicht schon gewusst, wie seine Schwester umgekommen ist?«
»Nein«, sagte Chuck. »Dieses Detail haben wir vor der Familie zurückgehalten. Wir haben ihnen nur gesagt, dass sie von jemandem ermordet wurde, der wahrscheinlich ein Fremder war. Und dass sie nicht sexuell missbraucht wurde.«
Butts kratzte sich am Kinn. »Ich entsinne mich, dass der Vater ziemlich distanziert war.«
»Sie haben recht«, sagte Lee. »Das kam mir auch seltsam vor.«
»Und was vermuten Sie?«, fragte Quinlan. »Glauben Sie, ihr Vater hat es mit ihr getrieben?«
Lee schüttelte den Kopf. »Nein. Laut Gerichtsmedizin war sie noch Jungfrau.«
Quinlan pfiff leise. »Mann, solche hat man heutzutage ja nicht allzu viele.«
»Ich glaube, ihr Bruder ist ebenfalls noch Jungfrau«, sagte Lee.
Mit finsterem Blick wandte Chuck sich ab. »Er hatte vielleicht noch keinen Sex, aber mit Gewalt kennt er sich aus.«
Lee sah sich die Polizeiaufnahmen noch einmal an. »Stimmt. Er ist ein sehr wütender junger Mann.«
»He«, meldete sich Butts. »Nur mal so nebenbei: Könnte er es sein? Der Mörder, meine ich?«
»Unwahrscheinlich«, sagte Lee. Doch zum ersten Mal erwog er ernsthaft die Möglichkeit, François Nugent könnte ein Verdächtiger sein. In gewisser Hinsicht passte alles zusammen. François hatte mehr oder weniger das richtige Alter, die richtige Hautfarbe und sozioökonomische Klasse, und er teilte die meisten anderen Merkmale des Mörders. Vielleicht hatte er aber auch einen Doppelgänger, der durch die Straßen der Stadt streifte, und dass dieser sich als erstes Opfer ausgerechnet seine Schwester ausgesucht hatte, war zufallsbedingtes Pech. In der Geschichte des Verbrechens waren schon seltsamere Dinge vorgekommen. Es gab so viele bizarre Storys, dass man, wie Polizisten gern sagten, sich diesen Scheiß selbst gar nicht ausdenken konnte.
KAPITEL 49
Nachdem er sich in einer Apotheke in der Bronx Ibuprofen besorgt hatte, nahm Lee die direkte Linie zum Gerichtsbezirk. Ein Besuch der Tombs im Süden von Manhattan war kaum das, was er sich unter einem
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