In sueßer Ruh
vergnüglichen Samstagnachmittag vorstellte, dachte er, als er sich, vorbei an auf Fisch und Meeresfrüchte spezialisierten Restaurants und Touristenfallen, durch Little Italy schlängelte. Wie an Wochenenden üblich standen die Oberkellner in schwarzen Westen und Anzugjacken auf dem Bürgersteig und verfolgten ihre aggressive Verkaufstaktik. Ein kurzer, dicker Mann mit Schnurrbart sah Lee kommen. Augenblicklich setzte er ein strahlendes Lächeln auf und gestikulierte Richtung Eingang, als hätte er ihn erwartet und wäre entzückt, ihn als Ehrengast hineinzugeleiten. Als Lee kurz zurücklächelte und sich schnell an dem Restaurant vorbeidrückte, rief der Mann ihm hinterher: »Beste Calamari von Little Italy! Ein Glas Wein aufs Haus! Probieren Sie, mein Freund!«
Er hatte noch nie in irgendeinem der Dutzend italienischen Restaurants und Konditoreien gegessen, die die engen kopfsteingepflasterten Straßen säumten. Für ihn waren das immer Neppläden und Mafiosobuden gewesen. Little Italy litt vermutlich nach den Anschlägen auf das World Trade Center – wie jeder andere Ort in Downtown auch. Er ließ die belebte Mott Street hinter sich und ging ins Herz von Chinatown, vorbei an den Teestuben und Ständen mit billigem Ramsch, den Tischen auf dem Gehweg, an denen alte Männer Mah-Jongg spielten. Südlich der Canal Street bog er nach rechts in die Bayard Street ab. Der Hintereingang zu den Tombs lag an der Kreuzung Baxter und Bayard Street. Er stand da und sah zu den schmutzigen Betonsäulen hinauf, die über den klapprigen Gebäuden von Chinatown schwebten. Als er durchs Sicherheitstor trat, stieg ihm ein Hauch von vietnamesisch mit Zitronengras und Knoblauch zubereitetem Fisch in die Nase. Er zeigte dem gelangweilt aussehenden Wachmann, der an einer Säule lehnte, als täten ihm die Füße weh, seinen Ausweis. Der Mann warf nur einen flüchtigen Blick darauf und winkte ihn durch.
Im Inneren fiel sein Blick als Erstes auf ein Schild, auf dem stand:
DER BESITZ
VON
VERBOTENEN GEGENSTÄNDEN
(WAFFEN)
RASIERKLINGEN MESSERN SCHEREN
SPITZEN GEGENSTÄNDEN MUNITION
sowie jeglicher anderer Waffen, die Verletzungen hervorrufen können
und/oder
Sonstigem, das die Sicherheit der Einrichtung gefährdet
FÜHRT ZU SOFORTIGER
VERHAFTUNG
Der offizielle Name des Gefängnisses war Manhattan Detention Complex, aber jedermann nannte es The Tombs – die Gräber –, und das Untersuchungsgefängnis war allem Anschein nach entschlossen, seinem Namen gerecht zu werden. Lange graue Korridore führten in andere lange graue Korridore, die zu den Zellen führten. Lee kam an Polizisten und Zivilfahndern vorbei, die Kaffee aus Pappbechern tranken, während ihre Täter aufgenommen wurden. Im Licht der Neonröhren wirkten alle grau: die Polizisten, ihre Häftlinge und die überarbeiteten Angestellten in den Aufnahmestellen.
Als er im Zellenblock zwölf ankam, stand François in seiner Zelle an der Wand und starrte aus einem winzigen Fenster, das auf den Columbus Park hinausging, den einzigen Park in Chinatown.
Der Junge warf einen kurzen Blick über die Schulter und schnaubte leise.
»Na, wenn das mal nicht der berühmte Profiler ist. Auf einen Sprung vorbeigekommen, um zu sehen, wie’s mir so geht?«
Sogar in der trostlosen Umgebung der Tombs schaffte es François Nugent, an seinem Sarkasmus und ätzenden Humor festzuhalten. Lee war sich unschlüssig, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Trotz der Ibuprofen ging es seinem Kopf schlechter, und das grelle Neonlicht machte es auch nicht gerade besser. Er legte zwei Finger an die rechte Schläfe und drückte fest zu.
»Der Ort hier passt zu dir«, sagte er und sah den Jungen durch die dicken Metallgitterstäbe der Zelle an. Immerhin saß er nicht mit dem üblichen Völkchen in einer Gemeinschaftszelle. Es musste eine schwache Woche sein, wenn er eine Zelle ganz für sich alleine hatte. Vielleicht funktionierten Reichtum und Privilegien seiner Eltern aber auch sogar hier unten.
François zuckte mit den Achseln. »Mir doch egal.«
Lee verschränkte die Arme und starrte ihn an. »Du hast mich angelogen.«
»Ach, komm schon, Mann. Als wär ich dafür da, Ihnen oder sonst wem zu gehorchen. Hören Sie auf zu träumen.« François warf sich auf die Pritsche in der Ecke. Die Federn quietschten wie erschreckte Mäuse.
»Du kannst nicht dein ganzes Leben rebellieren, verstehst du. Deine Eltern haben dich vielleicht vernachlässigt, aber das ist keine Entschuldigung dafür,
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