In tiefster Dunkelheit
Rückzugsgefecht war aufschlussreich. »Meine Tochter hatte keinen Freund.«
Hatte?
»Meine Güte«, sagte Jess, »das tut mir leid. Ich habe es einfach angenommen. Sie ist so hübsch. Und die Mädels heutzutage kennen ja weiß Gott immer viele Jungs, die hinter ihnen her sind, ob sie nun nach einem festen Freund suchen oder nicht.«
Lorraine sah weg. »Nicht unsere Reanne. Sie ist zu unreif für so eine Beziehung. Sie ist noch nicht bereit.«
Sagt wer?
Diese Frau verschloss die Augen vor der Realität, aber ganz fest. Vermutlich schon seit ihre kleine Tochter begonnen hatte, eine junge Frau zu werden. Schade für Mutter und Tochter. Obendrein glaubte die Mutter offensichtlich, dass ihre Tochter durchgebrannt war, auch wenn sie das eigentlich nicht hatte ausplaudern wollen.
»Es sollten mehr Eltern ihren Kindern sagen, wie wichtig es ist, zu warten, bis sie für eine solche Bindung bereit sind«, pflichtete Jess ihr bei. »Alles geht so schnell, und mit den Handys und so ist es fast unmöglich für Eltern, immer zu wissen, was im Leben ihrer Kinder passiert.«
»Wir benutzen keine Handys. Oder Computer. Das sind Werkzeuge des Teufels.«
Zu diesem Schluss war Jess auch gekommen, jedenfalls was Handys anging. Doch ihr schwante allmählich, dass Reannes Tattoo nur die Spitze des Eisbergs und Lorraine noch weit ahnungsloser war, als bisher angenommen. »Das klingt, als hätten Sie Ihrer Tochter ein gutes Beispiel gegeben. Ich bin sicher, dass sie bald wieder nach Hause kommt. Ihr Vater ist doch bestimmt ganz außer sich vor Sorge.«
Wenn Jess in diesem Moment Lorraine nicht direkt angesehen hätte, wäre ihr das vage Nicken entgangen.
»Er fühlt sich schuldig. Es macht ihn krank. Erst verlieren wir das Haus, und dann das hier.« Sie schüttelte den Kopf. »Deswegen konnte er heute Abend auch nicht kommen. Er erträgt es einfach nicht mehr.« Sie stieß heftig die Luft aus. »Er ist schwach.«
»Wie traurig.« Jess legte die Hand auf den Arm der Frau. »Es allein durchstehen zu müssen, macht alles bestimmt noch schwerer für Sie.«
Lorraine sah sie an, und unvermittelt wich ihr stumpfer Ausdruck leidenschaftlicher Inbrunst. »Ich bin nicht allein. Der Herr ist bei mir. Mein Vertrauen in Ihn ist grenzenlos. Was immer Er für meine Tochter bereithält, wird geschehen.«
»Natürlich.« Jess befeuchtete ihre Lippen, darauf bedacht, keine Wertung in Gesicht und Stimme zu zeigen. »Vielleicht wird Er auch Ihrem Mann bei seinen Schuldgefühlen helfen. Die Bibel sagt, dass wir unsere Last zu ihm tragen sollen.« Das Konzept hatte bei Jess nie funktioniert. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, sich nur auf sich selbst und nicht auf andere zu verlassen.
Lorraine schüttelte den Kopf, dieses Mal unnachgiebig. »Das Ganze ist seine Schuld.« Sie flüsterte beinahe. »Sein Glaube war nicht stark genug. Nachdem wir unser Haus verloren hatten, hatte er kein Vertrauen mehr in seinen Glauben. Er hat unser Mädchen enttäuscht, aber das Schlimmste war, dass er unseren himmlischen Vater enttäuscht hat, und nun werden wir alle bestraft.«
Ungefähr zwei Sekunden lang wusste Jess nicht, was sie sagen sollte. Hatte die Frau gar kein Mitleid mit ihrem Mann? Sie flüchtete sich in einen Satz, auf den immer Verlass war. »Das passiert den Besten von uns. Wir müssen einfach weitermachen.«
Lorraine zeigte auf die Menge. »Niemand versteht, dass es nicht in unserer Macht liegt. Wenn dies Sein Wille ist, dann wird alle Polizei der Welt nichts dagegen tun können.«
Falls Reanne wirklich weggelaufen war, verstand Jess jetzt auch warum. »Amen.«
Wells löste sich von Harper und strebte die Reihe der weiß gedeckten Tische entlang, auf deren Letztem die Schale mit der Bowle stand.
Jess tätschelte Lorraines Schulter. Sie suchte nach den Worten, die von ihr erwartet wurden. »Ich werde Sie in meine Gebete einschließen.«
Dann suchte sie eilig das Weite, damit die junge Ermittlerin sie nicht vor Mrs Parsons’ Nase abfing.
»Die York-Familie ist gleich nach der Andacht gegangen«, berichtete Wells ihr. »Mrs York hat die Beherrschung verloren, und ihr Mann fand, es wäre besser, sie nach Hause zu bringen.« Sie spähte an Jess’ Schulter vorbei. »Sie haben mit Mrs Parsons gesprochen.«
Jess hakte sich bei Wells unter und zog sie mit sich zwischen die Leute. »Ich möchte, dass das Haus der Parsons überwacht wird. Sofort. Kriegen Sie das hin, ohne über Chief Patterson gehen zu müssen?«
»Ja, schon, aber«, Wells Blick
Weitere Kostenlose Bücher