In tiefster Dunkelheit
geschafft habe, hat er mich in sein Büro gerufen und mir erklärt, dass er von mir mehr erwartet als von anderen neuen Detectives. Seitdem habe ich immer Angst, dass ich Mist baue.«
Oh, gute Güte. Wells hatte offenbar ihre Schlüsse daraus gezogen, dass sie Burnett in der Damentoilette angetroffen hatte. Und da sie einen scharfen Blick besaß, war es recht unwahrscheinlich, dass ihr Jess’ rote, geschwollene Augen entgangen waren.
»Glauben Sie mir, Detective, dass ich nicht ganz auf der Höhe bin, hat nichts mit Daniel Burnett zu tun. Er ist meine kleinste Sorge.«
Als wollte das Schicksal sie zur Lügnerin stempeln, umarmte am anderen Ende des Raumes gerade Dan eine große Brünette. Die Art Frau, bei der Frau sein ganz leicht aussah. Die Art, die alle anderen Frauen auf den ersten Blick hassten.
Wells, die ihr Interesse oder ihren offenen Mund bemerkt hatte, beeilte sich zu erklären: »Das ist Annette, seine Exfrau.«
»Er hat noch mal geheiratet?« Von der da hatte Jess noch nie gehört. Das musste sie ihm lassen: Er gab nicht auf. Aller guten Dinge waren offenbar doch nicht drei.
»Für kurze Zeit.« Wells räusperte sich. »Oh, und das da ist Annettes Ex. Ich meine, der Ex, zu dem sie zurück ist, als sie und der Chief sich getrennt haben. Es sind Andreas Eltern.«
»Sie ist Andreas Mutter?« Jess hatte doch gleich gespürt, dass da mehr dahintersteckte, als Dan von den vermissten Mädchen sprach. Also war Andrea seine Stieftochter. »Burnett sollte nicht an diesem Fall arbeiten.« Ihr Blick ruhte auf dem Mann, seiner Exfrau und deren ehemaligem Ex, der jetzt wohl … Moment … »Haben Mrs Denton und Andreas Vater wieder geheiratet?«
»Ja. Vor sechs Monaten.«
Das reichte nicht für die emotionale Distanz, die nötig war, um bei einem Fall wie diesem objektiv zu sein.
Am liebsten hätte Jess sich Burnett auf der Stelle vorgeknöpft – oder sobald er sein Gespräch mit den Dentons beendet hatte –, weil er dieses kleine Detail ihr gegenüber unerwähnt gelassen hatte.
Doch das würde sie nicht tun. Denn wenn sie ganz ehrlich mit sich war, würde sie vermutlich ebenso handeln, wenn jemand, der ihr am Herzen lag, vermisst wurde. Aber, verdammt noch mal, genau das war die Art von scheinbar unbedeutenden Details, die sie von diesen Leuten unbedingt brauchte.
Wie kam es, dass Männer mit Erfahrung wie Patterson, Griggs und Burnett nicht erkannten, dass das Unterschlagen von Informationen genau das Problem bei diesem Fall war? Die Kleinstadtmentalität. Es spielte keine Rolle, dass Birmingham zu einer der größten Städte im Süden herangewachsen war, hier tat man immer noch so, als würde jeder jeden kennen. Doch die Wahrheit war, dass niemand jemals wirklich zu den tiefsten, dunkelsten Geheimnissen eines anderen vordrang. Nicht einmal nach ein oder zwei Jahren Ehe.
Das wusste sie aus erster Hand.
»Ist da etwas zwischen Ihnen und dem Chief?«
Jess wandte sich wieder der jüngeren Frau zu und hob eine Augenbraue, sowohl als Zeichen ihrer Skepsis als auch vor Überraschung über ihre Unverfrorenheit.
»Ich hätte nicht fragen sollen.« Wells hielt beide Hände hoch, die Handflächen nach außen, und bewegte sie hin und her, als wollte sie die Frage wegwischen. Das verräterische Zeichen von Verlegenheit färbte ihre hohen Wangenknochen rot.
Jess hätte lügen können, doch vermutlich hätte Wells sie sofort durchschaut. »Ja, Detective, da ist etwas zwischen uns. Wir kennen uns schon von klein auf, sind zusammen zur Schule gegangen und so. Was wollen Sie damit sagen?«
Sergeant Harper erschien hinter Wells. Er lächelte Jess an. »Entschuldigen Sie, Agent Harris, aber ich brauche Detective Wells einen Moment.«
Harper war der zweite Detective vom BPD in der Sonderkommission. Er war länger bei der Truppe und hatte einen höheren Dienstgrad als Wells. Seine Uniformjacke war übersät mit Auszeichnungen. Ansonsten war er groß, dunkelhaarig, gut aussehend und charmant. Der leichte südamerikanische Akzent verlieh seiner Sprechweise etwas Exotisches. Genau der Richtige, um College-Mädchen zu befragen. Was wohl auch der Grund war, vermutete sie, warum man ihn für diese Sonderkommission ausgewählt hatte, mehr noch als die Tatsache, dass er als guter Ermittler galt.
»Selbstverständlich, Sergeant.« Jetzt, da sie sich alle wichtigen Gesichter eingeprägt hatte, war es Jess nur recht, einen Moment ungestört für sich zu haben. Außerdem konnte Wells dank Harpers Eingreifen sie nicht länger
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