In tiefster Dunkelheit
verloren.«
Jess erinnerte sich gut an diesen verheerenden Tag im April. Sie hatte sich Sorgen um ihre Schwester und ihre Familie gemacht. Und um Dan, obwohl sie das niemals laut zugegeben hätte. Zweimal hatte sie an diesem Tag eine Kollegin gebeten, ihn zu überprüfen. Dass sie nicht mehr so wie früher für ihn empfand, bedeutete noch lange nicht, dass er ihr gleichgültig war. Erneut meldeten sich dieselben verrückten Gefühle, die sie die letzten achtundvierzig Stunden am Denken gehindert hatten.
Sie drückte im Geiste die Löschtaste und ließ stattdessen die zahlreichen Aussagen und Berichte Revue passieren, die sie gelesen hatte. Wells hatte ihr bisher die Familien von drei der vermissten Mädchen gezeigt. Andrea Dentons Familie war noch nicht eingetroffen, aber laut Burnett auf dem Weg. Die Freunde aller vier Mädchen hatten sich eingefunden, um den Hoffnung und Trost spendenden Worten der verschiedenen Geistlichen zu lauschen, die die ansässigen Gemeinden repräsentierten. Der Gottesdienst fand in der riesigen Hauptkirche statt. Dezente Musik und die teuren Buntglasfenster sorgten für eine melancholische Atmosphäre.
Reannes Vater und die verspäteten Dentons hatten ausgesprochen herzzerreißende fünfundvierzig Minuten verpasst. Dann war die Menge hierher geleitet worden, in die Gebetshalle, wo man Erfrischungen servierte.
Dieser Programmpunkt, so hatte Jess erfahren, war Burnetts Idee gewesen. Er hoffte, die aufgewühlten Emotionen in Verbindung mit dem spirituellen Rahmen könnten dazu führen, dass jemand diese informelle Zusammenkunft nutzte, um mit Informationen rüberzukommen. So wie die Leute, die sich einem Pastor zu Füßen warfen, wenn der mit seiner Predigt den richtigen emotionalen Knopf drückte.
Das war allerdings bisher nicht passiert.
»Wir sollten den Vater, der nicht erschienen ist, überprüfen.« Irgendwie stieß ihr seine Abwesenheit auf. Nicht, dass jeder, der im Bible-Belt lebte, zwangsläufig auch gottesfürchtig war. Ganz bestimmt nicht, sonst wäre dieser spezielle Gottesdienst wohl kaum nötig. Doch wenn die Tochter eines Mannes verschwand, woraufhin seine offensichtlich gottesfürchtige Frau zu einer Veranstaltung für die Opfer erschien und er nicht, dann war da doch was faul. Sofern Mr Parsons nicht im Krankenhaus lag oder zumindest bettlägerig war, sollte er hier sein.
»Ich kümmere mich gleich darum, Ma’am.«
Jess verzog das Gesicht. »Das ›Ma’am‹ lassen Sie mal. Ich hasse das.«
»Pardon.« Wells machte ein unsicheres Gesicht. »Agent Harris?«
»Gott, das ist ja noch schlimmer.« Jess zuckte erneut zusammen. Sechs Stunden war sie jetzt wieder hier, und schon hörte sie sich an, als wäre sie nie weg gewesen. Der Dialekt, den sie sich vor Urzeiten abtrainiert hatte, entschlüpfte ihrem Mund, als hätte sie keinen eigenen Willen.
Nicht, dass sie den Süden hasste oder Birmingham. Was sie hasste, war ihr früheres Leben.
Nur der vollständige Bruch mit diesem Leben und allem, was dazugehörte, hatte ihr seinerzeit den Neubeginn ermöglicht. Das Sprungbrett für eine neue Jess. Es hatte ihr den Respekt von Menschen eingebracht, die die schleppende Sprechweise und das Nuscheln der Südstaatler für ein Zeichen mangelnder Intelligenz hielten.
Das emotionale Drama der letzten Tage war ihr wohl aufs Gehirn geschlagen. Sie fühlte sich orientierungslos, mutlos … ratlos. Ganz gleich, ob sie wegen des Falls hier war, für soziale Interaktion brachte sie im Moment einfach nicht die nötige Energie auf.
Sie musste sich zusammenreißen, egal wie. Jeder Fehler, den sie machte, konnte sich verheerend auf diesen Fall auswirken.
»Wie soll ich Sie denn ansprechen?«
Jess schüttelte den Kopf. Sie hatte Wells, die immer noch wartete, ganz vergessen. »Tut mir leid. Nennen Sie mich Jess oder Harris, ganz egal.«
Sie stieß die Luft aus, verärgert über sich selber. Sie war nie sehr gesellig gewesen, aber die aktuellen Umstände wirkten regelrecht verheerend auf die notdürftige soziale Kompetenz, mit der sie sich normalerweise über Wasser hielt. Wells fand Jess bestimmt schon ein wenig sonderbar.
»Mein Problem ist Folgendes, Detective Wells.« Ihre Finger schlossen sich fester um den Becher mit Bowle, bis das Styropor quietschte. »Ich bin ein bisschen neben der Spur.«
Wells nickte langsam und verständnisvoll, was bedeutete, dass sie gar nichts verstanden hatte. »Der Chief kann einen manchmal einschüchtern. Als ich es letztes Jahr zum Detective
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