In Todesangst
schon öfter hier gewesen, und natürlich kannte sie Andy. Trotzdem kamen mir ihre Worte eine Spur zu vertraulich vor.
Jeff stieg aus dem Civic, eilte hinter Patty her und warf im Vorbeilaufen zwei Schlüssel auf meinen Tisch. »Die hat jemand in dem Wagen vergessen«, sagte er.
SIEBEN
Ich hatte mich oft gefragt, wie andere Leute mit einer Situation wie dieser fertig wurden.
In den Nachrichten wurde dauernd von solchen Menschen berichtet. Einem Ehepaar, das ihr Kind bei einem Brand verloren hatte. Der Mutter eines Mädchens, das im Urlaub auf den Bermudas spurlos verschwunden war. Einem Vater, dessen Sohn bei einer Kneipenschlägerei ums Leben gekommen war. Einmal hatte ich einen Bericht über ein Mädchen gesehen, das bei einem Skiausflug mit seiner Klasse von einer Lawine erfasst und unter den Schneemassen begraben worden war. Die Bergungstrupps konnten sie nicht finden, und vor den Kameras standen die weinenden Eltern, die sich an den letzten Funken Hoffnung klammerten, obwohl jeder wusste, dass das Mädchen tot war.
Wie kommen diese Menschen nur damit zurecht?, murmelte ich in Richtung des Fernsehers.
Nach einem derartigen Schicksalsschlag konnte man unmöglich weiterleben wie zuvor. Wie auch?
Doch mittlerweile begriff ich, dass der Alltag trotzdem weiterging. Man stand auf. Frühstückte. Ging zur Arbeit. Erledigte seinen Job. Man kam nach Hause, machte sich etwas zum Abendessen und ging schlafen.
So wie alle anderen auch.
Trotzdem lässt es einen nicht los. Man lebt weiter, aber es ist kein Leben mehr. Stets spürt man die Last, die einen niederdrückt, wie einen Zementblock auf den Schultern – sie zieht einen runter, macht einen fix und fertig, während man sich ein ums andere Mal fragt, ob man am nächsten Tag erneut die Kraft aufbringen kann, sich auf die Beine zu kämpfen.
Aber man schafft es. Am nächsten Tag, am übernächsten Tag und am Tag darauf. Obwohl der Zementblock immer schwerer wird.
Er ist immer da.
***
Bevor ich die Firma verließ, kramte ich mir am Empfang die Fotokopie des Führerscheins von Richard Fletcher heraus – dem dreisten Burschen, der seine »Probefahrt« dazu genutzt hatte, mit unserem nagelneuen Ridgeline eine Fuhre Kuhmist zu transportieren. Er wohnte am Coulter Drive. Ich faltete das Blatt Papier zusammen und steckte es in meine Jackentasche.
Als ich im Wagen saß, stellte ich wieder Syds iPod an. Erst kam ein Song von Natasha Bedingfield, dann etwas von Elton John aus meiner Jugend und schließlich – ich staunte – Misty, das wunderschöne Stück von Erroll Garner, dem großen Jazzpianisten. Vor Monaten hatte ich Syd gegenüber erwähnt, dass es eins meiner Lieblingsstücke war, und sie hatte es sich offenbar postwendend heruntergeladen.
»Du hast Geschmack, Kleines«, sagte ich, als säße sie auf dem Beifahrersitz.
Ich fuhr nicht nach Hause, sondern zu Bobs Gebrauchtwagenhandel, und parkte vor dem Büro – einem großen Trailer, dessen Räder hinter einer dekorativen Vinylverkleidung versteckt waren.
Als ich die Stufen hinaufstieg, öffnete sich die Tür, und Evan stürmte mit puterrotem Gesicht heraus. Er sah aus, als würde er gleich explodieren.
»Hey«, sagte ich, doch er schob sich an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da, blieb abrupt vor einem roten Jetta stehen und trat mit voller Wucht gegen den hinteren Kotflügel.
»Fick dich ins Knie!«, brüllte er. »Fick dich ins Knie, du blöde Kuh!«
Dann lief er in Richtung Straße davon.
Ich betrat das Büro. Susanne saß an einem Schreibtisch rechts von der Tür. Die Krücken, die sie inzwischen Gott sei Dank nicht mehr benutzen musste, lehnten an der Wand, während ihr Stock von einem Garderobenhaken baumelte. Kopfschüttelnd sah sie zu mir auf.
»Du meine Güte«, sagte sie. Sie wirkte äußerst angespannt. »Hat Evan dich über den Haufen gerannt?«
»Er hat bloß einen Volkswagen demoliert«, sagte ich. »Was ist los?«
»Ich habe ihn bloß wegen des Gelds gefragt«, sagte sie.
»Welchem Geld?«
»In der Schublade hier lagen gestern noch zweihundert Dollar, das weiß ich genau. Und jetzt sind es nur noch vierzig. Ich habe Evan gefragt, ob er Geld gebraucht hätte – und auf einmal flippt er völlig aus, schreit mich an, ich hätte ihn des Diebstahls bezichtigt. Dabei habe ich nichts dergleichen getan. Ich habe ihn lediglich gefragt, ob …« Sie hielt inne und sah mich an. »Was ist passiert?«
»Die Polizei hat Syds Wagen gefunden«, sagte ich.
Mit ausdrucksloser
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