In tödlicher Gefahr
Gedächtnis beeinträchtigt hat, sondern ob du in der Lage bist, die Schwere der gegen dich vorgebrachten Anschuldigungen zu verstehen. Wenn ich mich recht entsinne, hatte deine Mutter bei unserem letzten Gespräch Alzheimer im Frühstadium.“
„Das ist immer noch so“, bestätigte sie und ahnte, auf was er hinauswollte.
„Also ist sie aufnahmefähig und die meiste Zeit geistesgegenwärtig?“
Sie spürte ihre Hoffnung schwinden. „Ja.“
„Du erkennst das Problem, nicht wahr?“
Abbie lehnte sich gegen den Tresen, während vor ihrem inneren Auge Bilder vorbeizogen, wie Irene von der Polizei verhört und dann wegen Mordes angeklagt wurde. Das wunderbar friedliche Leben ihrer Mutter wäre für immer zerstört. Ihre Tage würden nur noch aus Anschuldigungen, reißerischen Schlagzeilen, Demütigungen und Angst bestehen. Wenn all das sie nicht umbrächte, dann mit Sicherheit eine Gefängnisstrafe.
„Abbie?“ fragte Dennis besorgt.
„Ja, ich habe dich gehört. Ich versuche …“ Sie spürte, wie ihre Stimme brach und verstummte.
„Tut mir Leid. Ich wünschte, ich hätte Ermutigenderes für dich.“
„Ich auch.“
„Hast du noch Fragen? Muss noch etwas geklärt werden?“
„Nein. Du hast dich schmerzhaft deutlich ausgedrückt.“
„Tut mir Leid“, wiederholte er, und sie wusste, dass er es aufrichtig meinte. „Bitte ruf mich an, wenn du weitere Hilfe brauchst, ja?“ fügte er hinzu. „Die Vertraulichkeit zwischen Anwalt und Klient ist dir garantiert.“
„Mach’ ich.“
10. KAPITEL
A bbie saß allein am Küchentisch, und ihre morgendliche Tasse Kaffee war inzwischen kalt geworden. Obwohl ein frischer Wind die Wolken vertrieben hatte und der Himmel über Princeton strahlte, hob sich ihre Stimmung nicht. Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht. Das Telefonat mit Claudias Bruder hatte sie depressiver gemacht, als sie es vorher gewesen war. Außer zur Polizei zu gehen, wie Claudia vorgeschlagen hatte, und darauf zu hoffen, dass die Wahrheit siegte, sah sie keinen Ausweg aus dieser Misere.
Was war überhaupt die Wahrheit? Alles, was sie sicher wusste, war, dass Irene während ihrer zweijährigen Ehe mit Patrick McGregor eine sehr unglückliche Frau gewesen war. Selbst heute noch konnte sie sich genau an die heftigen Streitereien der beiden erinnern. Unter der Bettdecke verborgen, hatte sie gebetet, das Schreien möge aufhören und ihr Stiefvater solle so werden, wie ihr leiblicher Vater gewesen war: freundlich, fürsorglich und immer zu einem Spaß aufgelegt. Abbie hatte ihren Dad geliebt und sein Aussehen, seinen Geruch und sein Lachen gemocht. Wenn sie die Augen schloss, erinnerte sie sich, wie er sie vom Boden aufgehoben und auf seine Schultern gesetzt hatte, damit sie die Erntedankparade sehen konnte. Sie dachte an den Spaß an ihrem fünften Geburtstag, als sie Dreirad fahren gelernt hatte. Dad war neben ihr hergerannt und hatte sie angefeuert.
Dann war ein schrecklicher Unfall auf der Baustelle passiert, der Joe DiAngelo und drei Arbeiter das Leben kostete. Danach war alles anders geworden.
Abbie warf ihrer Mutter nicht vor, dass sie wieder geheiratet hatte. Sie war erst sechsunddreißig gewesen, ohne Arbeitserfahrung und nicht in der Lage, ihre Tochter allein durchzubringen. Als ein Freund ihr Patrick McGregor, einen Witwer und erfolgreichen Geschäftsmann, vorstellte, hatte Irene keine Chance gehabt. Bei der ersten Verabredung hatte Patrick ihr von seinem großen Haus an der El Camino Lane erzählt und von seinen zwei fabelhaften Kindern, die tapfer versuchten, mit dem Tod der Mutter fertig zu werden.
Es hatte nicht lange gedauert, und Irene war dem Charme des Iren und seinem guten Aussehen erlegen. Ein paar Wochen später hatten sie geheiratet, und Abbie bekam zwei neue Geschwister. Allerdings waren Ian und Liz eher Teufelsbraten und nicht die fabelhaften Kids, die Patrick beschrieben hatte.
Die Wahrheit über Patricks Trunksucht kam erst weitere Wochen später heraus. Zunächst war es harmlos erschienen. Andere Männer entspannten sich nach der Tagesarbeit, indem sie den Sportteil der Zeitung lasen, die Nachrichten hörten oder mit ihren Kindern spielten. Patrick trank.
Bald entwickelte sich die abendliche Angewohnheit jedoch zu einem Problem, das Irene nicht eindämmen konnte. Es kam immer häufiger zu Streitereien, die so heftig wurden, dass Irene daran dachte, ihren Mann zu verlassen. Eines Abends hatte Abbie ihre Mutter mit dem Großvater in Kansas telefonieren und über
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