In tödlicher Gefahr
die Trinkerei ihres Mannes reden hören. Unglücklicherweise hatte auch Patrick mitgehört und wurde so wütend, dass ein Nachbar klingelte und sie aufforderte, leiser zu sein, da er ansonsten die Polizei holen würde.
Ian hatte Recht. Falls die Behörden ihre ehemaligen Nachbarn befragten, fänden sie reichlich Verdachtsmomente für ein Verbrechen.
Was konnte sie also tun? Abbie unterdrückte einen Seufzer der Hoffnungslosigkeit. Sie besaß keine hunderttausend Dollar, die sie Ian geben konnte. Und selbst wenn, wäre es klug, einer Erpressung nachzugeben? Vielleicht genügte ihm das Geld nicht. Was, wenn Ian in einem Jahr wiederkäme und mehr wollte?
Bei dem bloßen Gedanken wurde ihr flau im Magen. Bisher war ihr Leben sehr geradlinig verlaufen. Die Werte, nach denen sie lebte, versuchte sie auch an ihren Sohn weiterzugeben – Integrität, Respekt, Rücksichtnahme, Ehrlichkeit und Selbstachtung.
Wenn Irene im Vollbesitz ihrer Kräfte wäre, wüsste Abbie genau, was sie sagen würde: „Wir kämpfen, Liebes. Wahrheit gegen Lüge, Gut gegen Böse. Wir werden siegen, du wirst sehen.“
Aber ihre Mutter war nicht mehr auf der Höhe, und die Intrige, die sie in besseren Zeiten bekämpft hätte, könnte sie jetzt ruinieren.
Es sei denn, sie, Abbie, verhinderte es.
Nachdem sie lange in ihren Becher gestarrt hatte, als läge die Antwort darin verborgen, stand sie auf und trug den kalten Kaffee zum Spülbecken. Trotz des inneren Aufruhrs waren ihre Hände bemerkenswert ruhig. Das war gut, denn bis dieser Albtraum vorüber wäre, brauchte sie Nerven aus Stahl.
„Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht, Mom“, raunte sie und goss den Kaffee in den Ausguss. „Ich verspreche es.“
Mit langen, energischen Schritten marschierte Abbie auf die Princeton National Bank an der Nordseite des Palmer Square zu. Die Entscheidung, sich hunderttausend Dollar zu leihen, war ihr nicht leicht gefallen. Obwohl das Restaurant inzwischen Gewinn abwarf, bedeutete ein zusätzliches Darlehen zu diesem Zeitpunkt, dass sie ihre Einnahmen erhöhen musste. Das schaffte sie nur, indem sie das Campagne auch sonntags öffnete, wenigstens zur Dinnerzeit.
Das Darlehen zu bekommen sollte kein Problem sein. Den zuständigen Abteilungsleiter, Ron Meltzer, betrachtete sie als Freund. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass ihr die vorherigen zwei Darlehen bewilligt wurden, und sie vertraute darauf, dass er ihr auch diesmal half. Warum sollte er nicht? Sie war stets pünktlich mit ihren Zahlungen, hatte alle Konten bei seiner Bank, und angesichts der wachsenden Popularität des Campagne konnte man sie nur als ausgezeichnete Investition bezeichnen. Der wunde Punkt war, dass sie Ron wegen des Darlehensgrundes belügen musste.
Nach kurzem Zögern drückte sie die Glastüren auf und entdeckte Ron an seinem Schreibtisch im hinteren Teil des Raumes.
„Abbie!“ Ron Meltzer, ein großer, fast knochiger Mann mit randloser Brille, kam freundlich lächelnd hinter seinem Schreibtisch hervor und ging ihr mit ausgestreckten Händen den halben Weg entgegen. „Was für eine schöne Überraschung.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Sonst bekomme ich Sie immer nur zu Gesicht, wenn Lori und ich zum Dinner ins Campagne gehen.“ Er wartete, bis sie vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, ehe er zu seinem Sessel zurückkehrte. „Und das ist nicht so oft, wie ich es gerne hätte.“
„Danke, Ron, nett, dass Sie das sagen.“
„Also?“ Er verschränkte die Arme und setzte seine ernsthafte Bankiersmiene auf. „Wie kann ich Ihnen heute helfen, Abbie?“
Sie räusperte sich leicht nervös. „Ich brauche ein Darlehen, Ron. Ein ziemlich großes.“
Er lehnte sich im Sessel zurück. „Wie groß?“
„Einhunderttausend Dollar.“
Ron hob eine Braue. „Haben Sie sich entschlossen, das Restaurant zu vergrößern? Sie erwähnten so etwas, als ich das letzte Mal mit Lori bei Ihnen war.“
„Nein.“ Abbie rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Eigentlich brauche ich das Geld, um das Haus meiner Mutter umzubauen.“
Diesmal zog er beide Brauen hoch. „Das Haus in Kingston?“
Abbie nickte.
„Welche Umbauten schweben Ihnen denn da vor?“
„Nun ja …“ Sie befeuchtete sich die Lippen. „Wie Sie wissen, hat meine Mutter Alzheimer. Außerdem leidet sie unter Arthritis. Ich dachte, wenn wir unten ein Schlafzimmer und ein Bad einbauen, erleichtert es ihr das Leben.“
Verzeih mir, Mom, dass ich dich so benutze!
„Haben Sie das Haus
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