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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Henn
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Ohne Absender. Nur mit Adressaten und einem Befehl
versehen:
    »Julius Eichendorff. Sofort öffnen!«
    Franz-Xaver konnte sich einen kleinen Scherz nicht verkneifen: »Also
eine Briefbomben kann des schon mal net sein, Maestro. Es tickt nämlich net.
Vielleicht isses ein Milzbrand, oder besser ein Weinbrand, den tät ich jetzt
vertragen.«
    Julius nahm ihm den Umschlag aus der Hand.
    Von wegen Bombe! Wer konnte ihm schon Böses wollen? Doch sicher war
sicher. Also griff er sich die weißen Handschuhe, die sonst für den Kellner am
Käsewagen bestimmt waren, und öffnete den Umschlag vor der Tür im Freien, die
Luft anhaltend und ihn weit von sich streckend. Nichts war zu hören. Kein
Pülverchen entwich. Nur ein Zettel lugte hervor. Hinter Julius stand die ganze
Brigade und schaute gespannt.
    »Geht rein und macht eure Arbeit. Ich will bald Feierabend haben!
Und dass mir alles blitzblank wird!«
    Mit großem Gemurre verzogen sich alle wieder ins Restaurant.
    Der Zettel war kariert und stammte, wie Julius an der aufgerissenen
Perforation am oberen Rand erkennen konnte, von einem Spiralblock. Mit
krakeliger Handschrift stand darauf in Großbuchstaben:
    » KOMMEN SIE ZUM OBERSTEN VIADUKTPFEILER IM
ADENBACHTAL. SOFORT, SONST IST ES ZU SPÄT !«
    Keine Unterschrift.
    Die Tür hinter ihm wurde aufgestoßen. Franz-Xaver.
    »Also, es tut mir furchtbar Leid, aber des halt ich net länger aus!
Was steht drin?«
    Julius reichte ihm wortlos den Zettel.
    »Is das einer von der unvollendeten Bahnlinie?«
    Franz-Xaver erntete ein Nicken.
    »Da gehst natürlich hin!«
    Aber Julius’ Entschluss stand schon fest. »Auf keinen Fall.«
    »Aber des könnt, na, des wird wichtig
sein!«
    »Um ein Uhr morgens? Mitten in den Weinbergen?«
    »Ich bitt dich! Der Mond scheint doch wunderbar hell heut Nacht! Und
sag bittschön, wer könnt es denn verantworten, dem grandiosesten Koch der Ahr
etwas anzutun?«
    »Einer, der auch beim besten Winzer nicht gezögert hat.«
    Franz-Xaver packte ihn an den Schultern. »Warum sollt dir jemand was Böses wollen?«
    Julius wusste keine Antwort. Franz-Xaver setzte nach.
    »Wenn du net auf diesem Ball tanzt, wirst du’s für immer bereuen!«
    Da war etwas dran, dachte Julius. Er würde sich fragen, wer dort auf
ihn gewartet hätte. Mit jedem Tag drängender. Dazu die Ungewissheit, den Grund
für das Treffen nicht zu kennen.
    Das würde ihn zerreißen.
    Und das gerade jetzt, wo er sich den ersten Stern erkochen wollte.
    »Hol mir mein Wüsthof-Messer und eine Taschenlampe! Ich hab für
Stromausfälle immer eine in der Kommode am Eingang. In der obersten Schublade
ganz rechts. Und du kommst mit!«
    Den Wagen stellte Julius in der Nähe der Weinbergskapelle
St. Urban ab. Von da war es noch ein gutes Stück zum obersten Viaduktpfeiler,
der wie ein riesiger Elektroschocker in den klaren Nachthimmel stach. Ahrweiler
war fast vollständig dunkel und lag wie ein seinem Ende entgegenfunkelnder
Geburtstagskuchen im Tal. Der Wind wehte kühl durch Julius’ Haarkranz, als er
aus dem Auto stieg.
    »Franz-Xaver, du bleibst am besten beim Wagen. Von hier oben hast du
alles im Blick.«
    »Und wo bleibt da der Spaß?«
    Julius konnte es nicht fassen. »Der Spaß wäre schnell vorbei, wenn der Unbekannte merkt, dass ich nicht allein bin,
oder? Das würde ihm bestimmt nicht gefallen.«
    Franz-Xaver trat enttäuscht in den steinigen Boden. »Dann werd ich es
mir halt hier bequem machen, mir in aller Ruh die alte Weinkelter da anschaun,
den Panoramablick genießen …«
    »Und nebenbei auf meine Taschenlampe achten, ob ich noch am Leben
bin.«
    »Wenn’s sein muss auch des.«
    Mit einem mehr als mulmigen Gefühl stieg Julius den
rebstockgesäumten Weg hinunter zum Pfeiler, der sich immer größer und
bedrohlicher vor ihm aufrichtete. Das Licht der Taschenlampe erhellte zwar den
Weg vor ihm, verdunkelte dafür aber alles ringsum. Ab und an hielt Julius inne,
weil er meinte, Schritte zu hören, das Knacken von Zweigen. Aber da war nichts.
Mit jedem Meter tiefer ins Tal hielt er den Ausflug für eine größere
Schnapsidee. »Wer sich in Gefahr bringt, kommt in ihr um!«, hatte sein Vater
immer gepredigt. Was hatte es genutzt? Nun war er hier, nur noch ein kurzes
Stück vom Pfeiler entfernt. Um jemanden zu treffen, der noch nicht einmal
bereit war, seinen Namen preiszugeben. Julius’ Schritte wurden schleppend,
unsicher.
    Langsam gewöhnten sich die Augen an die dunkle Szenerie.
    Niemand war zu sehen.
    Kein Geräusch war zu

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